Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik (1872), edited by Jay Noya, Brigantium Press
Friedrich Nietzsche:
Die Geburt der Tragödie
Versuch einer Selbstkritik
1.
Was auch diesem fragwürdigen Buche zu Grunde liegen mag: es muss eine
Frage ersten Ranges und Reizes gewesen sein, noch dazu eine tief
persönliche Frage, - Zeugniss dafür ist die Zeit, in der es entstand,
trotz der es entstand, die aufregende Zeit des deutsch-französischen
Krieges von 1870/71. Während die Donner der Schlacht von Wörth über
Europa weggiengen, sass der Grübler und Räthselfreund, dem die
Vaterschaft dieses Buches zu Theil ward, irgendwo in einem Winkel der
Alpen, sehr vergrübelt und verräthselt, folglich sehr bekümmert und
unbekümmert zugleich, und schrieb seine Gedanken über die Griechen
nieder, - den Kern des wunderlichen und schlecht zugänglichen Buches,
dem diese späte Vorrede (oder Nachrede) gewidmet sein soll. Einige
Wochen darauf: und er befand sich selbst unter den Mauern von Metz,
immer noch nicht losgekommen von den Fragezeichen, die er zur
vorgeblichen "Heiterkeit" der Griechen und der griechischen Kunst
gesetzt hatte; bis er endlich in jenem Monat tiefster Spannung, als
man in Versailles über den Frieden berieth, auch mit sich zum Frieden
kam und, langsam von einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit
genesend, die "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik"
letztgültig bei sich feststellte. - Aus der Musik? Musik und Tragödie?
Griechen und Tragödien-Musik? Griechen und das Kunstwerk des
Pessimismus? Die wohlgerathenste, schönste, bestbeneidete, zum Leben
verführendste Art der bisherigen Menschen, die Griechen - wie?
gerade sie hatten die Tragödie nöthig? Mehr noch - die Kunst? Wozu -
griechische Kunst?
Man erräth, an welche Stelle hiermit das grosse Fragezeichen vom
Werth des Daseins gesetzt war. Ist Pessimismus nothwendig das Zeichen
des Niedergangs, Verfalls, des Missrathenseins, der ermüdeten und
geschwächten Instinkte? - wie er es bei den Indern war, wie er es,
allem Anschein nach, bei uns, den "modernen" Menschen und Europäern
ist? Giebt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle
Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des
Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des
Daseins? Giebt es vielleicht ein Leiden an der Ueberfülle selbst?
Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem
Furchtbaren verlangt, als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an
dem sie ihre Kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was "das
Fürchten" ist? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten,
stärksten, tapfersten Zeit, der tragische Mythus? Und das ungeheure
Phänomen des Dionysischen? Was, aus ihm geboren, die Tragödie? - Und
wiederum: das, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral,
die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen
- wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des
Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lösenden
Instinkte sein? Und die "griechische Heiterkeit" des späteren
Griechenthums nur eine Abendröthe? Der epikurische Wille gegen den
Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden? Und die Wissenschaft
selbst, unsere Wissenschaft - ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom
des Lebens angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher -
alle Wissenschaft? Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine
Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Nothwehr gegen -
die Wahrheit? Und, moralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit?
Unmoralisch geredet, eine Schlauheit? Oh Sokrates, Sokrates, war das
vielleicht dein Geheimniss? Oh geheimnissvoller Ironiker, war dies
vielleicht deine - Ironie? - -
2.
Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gefährliches,
ein Problem mit Hörnern, nicht nothwendig gerade ein Stier, jedenfalls
ein neues Problem: heute würde ich sagen, dass es das Problem
der Wissenschaft selbst war - Wissenschaft zum ersten Male als
problematisch, als fragwürdig gefasst. Aber das Buch, in dem mein
jugendlicher Muth und Argwohn sich damals ausliess - was für ein
unmögliches Buch musste aus einer so jugendwidrigen Aufgabe erwachsen!
Aufgebaut aus lauter vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen, welche
alle hart an der Schwelle des Mittheilbaren lagen, hingestellt auf den
Boden der Kunst - denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf
dem Boden der Wissenschaft erkannt werden - ein Buch vielleicht
für Künstler mit dem Nebenhange analytischer und retrospektiver
Fähigkeiten (das heisst für eine Ausnahme- Art von Künstlern, nach
denen man suchen muss und nicht einmal suchen möchte...), voller
psychologischer Neuerungen und Artisten-Heimlichkeiten, mit einer
Artisten-Metaphysik im Hintergrunde, ein Jugendwerk voller Jugendmuth
und Jugend-Schwermuth, unabhängig, trotzig-selbstständig auch noch, wo
es sich einer Autorität und eignen Verehrung zu beugen scheint, kurz
ein Erstlingswerk auch in jedem schlimmen Sinne des Wortes, trotz
seines greisenhaften Problems, mit jedem Fehler der Jugend behaftet,
vor allem mit ihrem "Viel zu lang", ihrem "Sturm und Drang":
andererseits, in Hinsicht auf den Erfolg, den es hatte (in Sonderheit
bei dem grossen Künstler, an den es sich wie zu einem Zwiegespräch
wendete, bei Richard Wagner) ein bewiesenes Buch, ich meine ein
solches, das jedenfalls "den Besten seiner Zeit" genug gethan hat.
Darauf hin sollte es schon mit einiger Rücksicht und Schweigsamkeit
behandelt werden; trotzdem will ich nicht gänzlich unterdrücken, wie
unangenehm es mir jetzt erscheint, wie fremd es jetzt nach sechzehn
Jahren vor mir steht, - vor einem älteren, hundert Mal verwöhnteren,
aber keineswegs kälter gewordenen Auge, das auch jener Aufgabe selbst
nicht fremder wurde, an welche sich jenes verwegene Buch zum ersten
Male herangewagt hat, - die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers
zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens....
3.
Nochmals gesagt, heute ist es mir ein unmögliches Buch, - ich heisse
es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwüthig und
bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen,
ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr
überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend, misstrauisch
selbst gegen die Schicklichkeit des Beweisens, als Buch für
Eingeweihte, als "Musik" für Solche, die auf Musik getauft, die auf
gemeinsame und seltene Kunst-Erfahrungen hin von Anfang der Dinge an
verbunden sind, als Erkennungszeichen für Blutsverwandte in artibus, -
ein hochmüthiges und schwärmerisches Buch, das sich gegen das profanum
vulgus der "Gebildeten" von vornherein noch mehr als gegen das "Volk"
abschliesst, welches aber, wie seine Wirkung bewies und beweist, sich
gut genug auch darauf verstehen muss, sich seine Mitschwärmer zu
suchen und sie auf neue Schleichwege und Tanzplätze zu locken. Hier
redete jedenfalls - das gestand man sich mit Neugierde ebenso als mit
Abneigung ein - eine fremde Stimme, der Jünger eines noch "unbekannten
Gottes", der sich einstweilen unter die Kapuze des Gelehrten, unter
die Schwere und dialektische Unlustigkeit des Deutschen, selbst unter
die schlechten Manieren des Wagnerianers versteckt hat; hier war ein
Geist mit fremden, noch namenlosen Bedürfnissen, ein Gedächtniss
strotzend von Fragen, Erfahrungen, Verborgenheiten, welchen der Name
Dionysos wie ein Fragezeichen mehr beigeschrieben war; hier sprach -
so sagte man sich mit Argwohn - etwas wie eine mystische und beinahe
mänadische Seele, die mit Mühsal und willkürlich, fast unschlüssig
darüber, ob sie sich mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in
einer fremden Zunge stammelt. Sie hätte singen sollen, diese "neue
Seele" - und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu
sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es
vielleicht gekonnt! Oder mindestens als Philologe: - bleibt doch auch
heute noch für den Philologen auf diesem Gebiete beinahe Alles zu
entdecken und auszugraben! Vor allem das Problem, dass hier ein
Problem vorliegt, - und dass die Griechen, so lange wir keine Antwort
auf die Frage "was ist dionysisch?" haben, nach wie vor gänzlich
unerkannt und unvorstellbar sind...
4.
Ja, was ist dionysisch? - In diesem Buche steht eine Antwort darauf,
- ein "Wissender" redet da, der Eingeweihte und Jünger seines Gottes.
Vielleicht würde ich jetzt vorsichtiger und weniger beredt von einer
so schweren psychologischen Frage reden, wie sie der Ursprung der
Tragödie bei den Griechen ist. Eine Grundfrage ist das Verhältniss
des Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilität, - blieb dies
Verhältniss sich gleich? oder drehte es sich um? - jene Frage, ob
wirklich sein immer stärkeres Verlangen nach Schönheit, nach Festen,
Lustbarkeiten, neuen Culten, aus Mangel, aus Entbehrung, aus
Melancholie, aus Schmerz erwachsen ist? Gesetzt nämlich, gerade dies
wäre wahr - und Perikles (oder Thukydides) giebt es uns in der grossen
Leichenrede zu verstehen -: woher müsste dann das entgegengesetzte
Verlangen, das der Zeit nach früher hervortrat, stammen, das Verlangen
nach dem Hässlichen, der gute strenge Wille des älteren Hellenen zum
Pessimismus, zum tragischen Mythus, zum Bilde alles Furchtbaren,
Bösen, Räthselhaften, Vernichtenden, Verhängnissvollen auf dem Grunde
des Daseins, - woher müsste dann die Tragödie stammen? Vielleicht
aus der Lust, aus der Kraft, aus überströmender Gesundheit, aus
übergrosser Fülle? Und welche Bedeutung hat dann, physiologisch
gefragt, jener Wahnsinn, aus dem die tragische wie die komische Kunst
erwuchs, der dionysische Wahnsinn? Wie? Ist Wahnsinn vielleicht nicht
nothwendig das Symptom der Entartung, des Niedergangs, der überspäten
Cultur? Giebt es vielleicht - eine Frage für Irrenärzte - Neurosen der
Gesundheit? der Volks-Jugend und -Jugendlichkeit? Worauf weist jene
Synthesis von Gott und Bock im Satyr? Aus welchem Selbsterlebniss, auf
welchen Drang hin musste sich der Grieche den dionysischen Schwärmer
und Urmenschen als Satyr denken? Und was den Ursprung des tragischen
Chors betrifft: gab es in jenen Jahrhunderten, wo der griechische
Leib blühte, die griechische Seele von Leben überschäumte, vielleicht
endemische Entzückungen? Visionen und Hallucinationen, welche sich
ganzen Gemeinden, ganzen Cultversammlungen mittheilten? Wie? wenn die
Griechen, gerade im Reichthum ihrer Jugend, den Willen zum Tragischen
hatten und Pessimisten waren? wenn es gerade der Wahnsinn war, um ein
Wort Plato's zu gebrauchen, der die grössten Segnungen über Hellas
gebracht hat? Und wenn, andererseits und umgekehrt, die Griechen
gerade in den Zeiten ihrer Auflösung und Schwäche, immer
optimistischer, oberflächlicher, schauspielerischer, auch nach Logik
und Logisirung der Welt brünstiger, also zugleich "heiterer" und
"wissenschaftlicher" wurden? Wie? könnte vielleicht, allen "modernen
Ideen" und Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der
Sieg des Optimismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, der
praktische und theoretische Utilitarismus, gleich der Demokratie
selbst, mit der er gleichzeitig ist, - ein Symptom der absinkenden
Kraft, des nahenden Alters, der physiologischen Ermüdung sein? Und
gerade nicht - der Pessimismus? War Epikur ein Optimist - gerade als
Leidender? - - Man sieht, es ist ein ganzes Bündel schwerer Fragen,
mit dem sich dieses Buch belastet hat, - fügen wir seine schwerste
Frage noch hinzu! Was bedeutet, unter der Optik des Lebens gesehn, -
die Moral? . . .
5.
Bereits im Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst - und nicht die
Moral - als die eigentlich metaphysische Thätigkeit des Menschen
hingestellt; im Buche selbst kehrt der anzügliche Satz mehrfach
wieder, dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt
gerechtfertigt ist. In der That, das ganze Buch kennt nur einen
Künstler-Sinn und - Hintersinn hinter allem Geschehen, - einen "Gott",
wenn man will, aber gewiss nur einen gänzlich unbedenklichen und
unmoralischen Künstler-Gott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten
wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit inne
werden will, der sich, Welten schaffend, von der Noth der Fülle und
Ueberfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze löst. Die
Welt, in jedem Augenblicke die erreichte Erlösung Gottes, als die
ewig wechselnde, ewig neue Vision des Leidendsten, Gegensätzlichsten,
Widerspruchreichsten, der nur im Scheine sich zu erlösen weiss: diese
ganze Artisten-Metaphysik mag man willkürlich, müssig, phantastisch
nennen -, das Wesentliche daran ist, dass sie bereits einen Geist
verräth, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralische
Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird. Hier
kündigt sich, vielleicht zum ersten Male, ein Pessimismus "jenseits
von Gut und Böse" an, hier kommt jene "Perversität der Gesinnung" zu
Wort und Formel, gegen welche Schopenhauer nicht müde geworden ist,
im Voraus seine zornigsten Flüche und Donnerkeile zu schleudern,
- eine Philosophie, welche es wagt, die Moral selbst in die Welt
der Erscheinung zu setzen, herabzusetzen und nicht nur unter die
"Erscheinungen" (im Sinne des idealistischen terminus technicus),
sondern unter die "Täuschungen", als Schein, Wahn, Irrthum,
Ausdeutung, Zurechtmachung, Kunst. Vielleicht lässt sich die Tiefe
dieses widermoralischen Hanges am besten aus dem behutsamen und
feindseligen Schweigen ermessen, mit dem in dem ganzen Buche
das Christenthum behandelt ist, - das Christenthum als die
ausschweifendste Durchfigurirung des moralischen Thema's, welche die
Menschheit bisher anzuhören bekommen hat. In Wahrheit, es giebt zu
der rein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wie sie
in diesem Buche gelehrt wird, keinen grösseren Gegensatz als die
christliche Lehre, welche nur moralisch ist und sein will und mit
ihren absoluten Maassen, zum Beispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit
Gottes, die Kunst, jede Kunst in's Reich der Lüge verweist, - das
heisst verneint, verdammt, verurtheilt. Hinter einer derartigen Denk-
und Werthungsweise, welche kunstfeindlich sein muss, so lange sie
irgendwie ächt ist, empfand ich von jeher auch das Lebensfeindliche,
den ingrimmigen rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst: denn
alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit
des Perspektivischen und des Irrthums. Christenthum war von Anfang an,
wesentlich und gründlich, Ekel und Ueberdruss des Lebens am Leben,
welcher sich unter dem Glauben an ein "anderes" oder "besseres" Leben
nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Hass auf die
"Welt", der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und
Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu
verleumden, im Grunde ein Verlangen in's Nichts, an's Ende, in's
Ausruhen, hin zum "Sabbat der Sabbate" - dies Alles dünkte mich,
ebenso wie der unbedingte Wille des Christenthums, nur moralische
Werthe gelten zu lassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste
Form aller möglichen Formen eines "Willens zum Untergang", zum
Mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmuthigkeit,
Erschöpfung, Verarmung an Leben, - denn vor der Moral (in Sonderheit
christlichen, das heisst unbedingten Moral) muss das Leben beständig
und unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell
Unmoralisches ist, - muss endlich das Leben, erdrückt unter dem
Gewichte der Verachtung und des ewigen Nein's, als begehrens-unwürdig,
als unwerth an sich empfunden werden. Moral selbst - wie? sollte Moral
nicht ein "Wille zur Verneinung des Lebens", ein heimlicher Instinkt
der Vernichtung, ein Verfalls-, Verkleinerungs-, Verleumdungsprincip,
ein Anfang vom Ende sein? Und, folglich, die Gefahr der Gefahren?...
Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen
Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens,
und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwerthung des
Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen?
Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige
Freiheit - denn wer wüsste den rechten Namen des Antichrist? - auf den
Namen eines griechischen Gottes: ich hiess sie die dionysische. -
6.
Man versteht, an welche Aufgabe ich bereits mit diesem Buche zu rühren
wagte?... Wie sehr bedauere ich es jetzt, dass ich damals noch nicht
den Muth (oder die Unbescheidenheit?) hatte, um mir in jedem Betrachte
für so eigne Anschauungen und Wagnisse auch eine eigne Sprache zu
erlauben, - dass ich mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen
Formeln fremde und neue Werthschätzungen auszudrücken suchte, welche
dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke,
von Grund aus entgegen giengen! Wie dachte doch Schopenhauer über
die Tragödie? "Was allem Tragischen den eigenthümlichen Schwung zur
Erhebung giebt - sagt er, Welt als Wille und Vorstellung II, 495 - ist
das Aufgehen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes
Genügen geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeit nicht werth sei:
darin besteht der tragische Geist -, er leitet demnach zur Resignation
hin". Oh wie anders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir
damals gerade dieser ganze Resignationismus! - Aber es giebt etwas
viel Schlimmeres an dem Buche, das ich jetzt noch mehr bedauere, als
mit Schopenhauerischen Formeln dionysische Ahnungen verdunkelt und
verdorben zu haben: dass ich mir nämlich überhaupt das grandiose
griechische Problem, wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der
modernsten Dinge verdarb! Dass ich Hoffnungen anknüpfte, wo Nichts zu
hoffen war, wo Alles allzudeutlich auf ein Ende hinwies! Dass ich, auf
Grund der deutschen letzten Musik, vom "deutschen Wesen" zu fabeln
begann, wie als ob es eben im Begriff sei, sich selbst zu entdecken
und wiederzufinden - und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der
nicht vor Langem noch den Willen zur Herrschaft über Europa, die Kraft
zur Führung Europa's gehabt hatte, eben letztwillig und endgültig
abdankte und, unter dem pomphaften Vorwande einer Reichs- Begründung,
seinen Uebergang zur Vermittelmässigung, zur Demokratie und den
"modernen Ideen" machte! In der That, inzwischen lernte ich
hoffnungslos und schonungslos genug von diesem "deutschen Wesen"
denken, insgleichen von der jetzigen deutschen Musik, als welche
Romantik durch und durch ist und die ungriechischeste aller möglichen
Kunstformen: überdies aber eine Nervenverderberin ersten Ranges,
doppelt gefährlich, bei einem Volke, das den Trunk liebt und die
Unklarheit als Tugend ehrt, nämlich in ihrer doppelten Eigenschaft als
berauschendes und zugleich benebelndes Narkotikum. - Abseits freilich
von allen übereilten Hoffnungen und fehlerhaften Nutzanwendungen auf
Gegenwärtigstes, mit denen ich mir damals mein erstes Buch verdarb,
bleibt das grosse dionysische Fragezeichen, wie es darin gesetzt ist,
auch in Betreff der Musik, fort und fort bestehen: wie müsste eine
Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre,
gleich der deutschen, - sondern dionysischen? . . .
7.
- Aber, mein Herr, was in aller Welt ist Romantik, wenn nicht Ihr
Buch Romantik ist? Lässt sich der tiefe Hass gegen "Jetztzeit",
"Wirklichkeit" und "moderne Ideen" weiter treiben, als es in Ihrer
Artisten-Metaphysik geschehen ist? - welche lieber noch an das Nichts,
lieber noch an den Teufel, als an das "Jetzt" glaubt? Brummt nicht
ein Grundbass von Zorn und Vernichtungslust unter aller Ihrer
contrapunktischen Stimmen-Kunst und Ohren-Verführerei hinweg, eine
wüthende Entschlossenheit gegen Alles, was "jetzt" ist, ein Wille,
welcher nicht gar zu ferne vom praktischen Nihilismus ist und zu sagen
scheint "lieber mag Nichts wahr sein, als dass ihr Recht hättet,
als dass eure Wahrheit Recht behielte!" Hören Sie selbst, mein Herr
Pessimist und Kunstvergöttlicher, mit aufgeschlossnerem Ohre eine
einzige ausgewählte Stelle Ihres Buches an, jene nicht unberedte
Drachentödter-Stelle, welche für junge Ohren und Herzen verfänglich
rattenfängerisch klingen mag: wie? ist das nicht das ächte rechte
Romantiker-Bekenntniss von 1830, unter der Maske des Pessimismus von
1850 hinter dem auch schon das übliche Romantiker-Finale präludirt,
- Bruch, Zusammenbruch, Rückkehr und Niedersturz vor einem alten
Glauben, vor dem alten Gotte . . . Wie? ist Ihr Pessimisten-Buch nicht
selbst ein Stück Antigriechenthum und Romantik, selbst etwas "ebenso
Berauschendes als Benebelndes", ein Narkotikum jedenfalls, ein Stück
Musik sogar, deutscher Musik? Aber man höre:
"Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser
Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug in's
Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter, die
stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoktrinen
des Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen, resolut zu
leben: sollte es nicht nöthig sein, dass der tragische Mensch dieser
Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, eine
neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, die Tragödie als die
ihm zugehörige Helena begehren und mit Faust ausrufen muss:
Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt,
In's Leben zieh'n die einzigste Gestalt?"
"Sollte es nicht nöthig sein?" . . . Nein, drei Mal nein! ihr
jungen Romantiker: es sollte nicht nöthig sein! Aber es ist sehr
wahrscheinlich, dass es so endet, dass ihr so endet, nämlich
"getröstet", wie geschrieben steht, trotz aller Selbsterziehung
zum Ernst und zum Schrecken, "metaphysisch getröstet", kurz, wie
Romantiker enden, christlich Nein! Ihr solltet vorerst die Kunst
des diesseitigen Trostes lernen, - ihr solltet lachen lernen, meine
jungen Freunde, wenn anders ihr durchaus Pessimisten bleiben wollt;
vielleicht dass ihr darauf hin, als Lachende, irgendwann einmal alle
metaphysische Trösterei zum Teufel schickt - und die Metaphysik voran!
Oder, um es in der Sprache jenes dionysischen Unholds zu sagen, der
Zarathustra heisst:
"Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch, höher! Und vergesst mir auch
die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser
noch: ihr steht auch auf dem Kopf!"
"Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte
mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen
Anderen fand ich heute stark genug dazu."
"Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln
winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig,
ein Selig-Leichtfertiger:" -
"Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher, kein
Ungeduldiger, kein Unbedingter, Einer, der Sprünge und Seitensprünge
liebt: ich selber setzte mir diese Krone auf!"
"Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, meinen
Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig: ihr
höheren Menschen, lernt mir - lachen!"
Vorwort an Richard Wagner.
Um mir alle die möglichen Bedenklichkeiten, Aufregungen und
Missverständnisse ferne zu halten, zu denen die in dieser Schrift
vereinigten Gedanken bei dem eigenthümlichen Character unserer
aesthetischen Oeffentlichkeit Anlass geben werden, und um auch die
Einleitungsworte zu derselben mit der gleichen beschaulichen Wonne
schreiben zu können, deren Zeichen sie selbst, als das Petrefact guter
und erhebender Stunden, auf jedem Blatte trägt, vergegenwärtige ich
mir den Augenblick, in dem Sie, mein hochverehrter Freund, diese
Schrift empfangen werden: wie Sie, vielleicht nach einer abendlichen
Wanderung im Winterschnee, den entfesselten Prometheus auf dem
Titelblatte betrachten, meinen Namen lesen und sofort überzeugt sind,
dass, mag in dieser Schrift stehen, was da wolle, der Verfasser etwas
Ernstes und Eindringliches zu sagen hat, ebenfalls dass er, bei allem,
was er sich erdachte, mit Ihnen wie mit einem Gegenwärtigen verkehrte
und nur etwas dieser Gegenwart Entsprechendes niederschreiben durfte.
Sie werden dabei sich erinnern, dass ich zu gleicher Zeit, als Ihre
herrliche Festschrift über Beethoven entstand, das heisst in den
Schrecken und Erhabenheiten des eben ausgebrochnen Krieges mich zu
diesen Gedanken sammelte. Doch würden diejenigen irren, welche etwa
bei dieser Sammlung an den Gegensatz von patriotischer Erregung und
aesthetischer Schwelgerei, von tapferem Ernst und heiterem Spiel
denken sollten: denen möchte vielmehr, bei einem wirklichen Lesen
dieser Schrift, zu ihrem Erstaunen deutlich werden, mit welchem
ernsthaft deutschen Problem wir zu thun haben, das von uns recht
eigentlich in die Mitte deutscher Hoffnungen, als Wirbel und
Wendepunkt hingestellt wird. Vielleicht aber wird es für eben
dieselben überhaupt anstössig sein, ein aesthetisches Problem so ernst
genommen zu sehn, falls sie nämlich in der Kunst nicht mehr als ein
lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu missendes Schellengeklingel
zum "Ernst des Daseins" zu erkennen im Stande sind: als ob Niemand
wüsste, was es bei dieser Gegenüberstellung mit einem solchen "Ernste
des Daseins" auf sich habe. Diesen Ernsthaften diene zur Belehrung,
dass ich von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich
metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens im Sinne des Mannes überzeugt
bin, dem ich hier, als meinem erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn,
diese Schrift gewidmet haben will.
Basel, Ende des Jahres 187l.
1.
Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben,
wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren
Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung
der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen
gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit
der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch
eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den
Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung
zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten
ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen. An ihre beiden
Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss,
dass in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung
und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und
der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide
so verschiedne Triebe gehen neben einander her, zumeist im offnen
Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren
Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu
perpetuiren, den das gemeinsame Wort "Kunst" nur scheinbar überbrückt;
bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen
"Willens", mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung
zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der
attischen Tragödie erzeugen.
Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken wir sie uns
zunächst als die getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches;
zwischen welchen physiologischen Erscheinungen ein entsprechender
Gegensatz, wie zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zu
bemerken ist. Im Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des
Lucretius, die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen,
im Traume sah der grosse Bildner den entzückenden Gliederbau
übermenschlicher Wesen, und der hellenische Dichter, um die
Geheimnisse der poetischen Zeugung befragt, würde ebenfalls an den
Traum erinnert und eine ähnliche Belehrung gegeben haben, wie sie Hans
Sachs in den Meistersingern giebt:
Mein Freund, das grad' ist Dichters Werk,
dass er sein Träumen deut' und merk'.
Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn
wird ihm im Traume aufgethan:
all' Dichtkunst und Poëterei
ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.
Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch
voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja
auch, wie wir sehen werden, einer wichtigen Hälfte der Poesie. Wir
geniessen im unmittelbaren Verständnisse der Gestalt, alle Formen
sprechen zu uns, es giebt nichts Gleichgültiges und Unnöthiges. Bei
dem höchsten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch noch die
durchschimmernde Empfindung ihres Scheins: wenigstens ist dies meine
Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität, ich manches Zeugniss
und die Aussprüche der Dichter beizubringen hätte. Der philosophische
Mensch hat sogar das Vorgefühl, dass auch unter dieser Wirklichkeit,
in der wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen liege,
dass also auch sie ein Schein sei; und Schopenhauer bezeichnet
geradezu die Gabe, dass Einem zu Zeiten die Menschen und alle Dinge
als blosse Phantome oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen
philosophischer Befähigung. Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit
des Daseins, so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur
Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn aus diesen
Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für
das Leben. Nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder sind
es, die er mit jener Allverständigkeit an sich erfährt: auch das
Ernste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die
Neckereien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die ganze
"göttliche Komödie" des Lebens, mit dem Inferno, zieht an ihm vorbei,
nicht nur wie ein Schattenspiel - denn er lebt und leidet mit in
diesen Scenen - und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfindung
des Scheins; und vielleicht erinnert sich Mancher, gleich mir, in den
Gefährlichkeiten und Schrecken des Traumes sich mitunter ermuthigend
und mit Erfolg zugerufen zu haben: "Es ist ein Traum! Ich will ihn
weiter träumen!" Wie man mir auch von Personen erzählt hat, die
die Causalität eines und desselben Traumes über drei und mehr
aufeinanderfolgende Nächte hin fortzusetzen im Stande waren:
Thatsachen, welche deutlich Zeugniss dafür abgeben, dass unser
innerstes Wesen, der gemeinsame Untergrund von uns allen, mit tiefer
Lust und freudiger Nothwendigkeit den Traum an sich erfährt.
Diese freudige Nothwendigkeit der Traumerfahrung ist gleichfalls von
den Griechen in ihrem Apollo ausgedrückt worden: Apollo, als der Gott
aller bildnerischen Kräfte, ist zugleich der wahrsagende Gott. Er, der
seiner Wurzel nach der "Scheinende", die Lichtgottheit ist, beherrscht
auch den schönen Schein der inneren Phantasie-Welt. Die höhere
Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der
lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit, sodann das tiefe
Bewusstsein von der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur
ist zugleich das symbolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit und
überhaupt der Künste, durch die das Leben möglich und lebenswerth
gemacht wird. Aber auch jene zarte Linie, die das Traumbild nicht
überschreiten darf, um nicht pathologisch zu wirken, widrigenfalls
der Schein als plumpe Wirklichkeit uns betrügen würde - darf nicht im
Bilde des Apollo fehlen: jene maassvolle Begrenzung, jene Freiheit von
den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes.
Sein Auge muss "sonnenhaft", gemäss seinem Ursprunge, sein; auch wenn
es zürnt und unmuthig blickt, liegt die Weihe des schönen Scheines auf
ihm. Und so möchte von Apollo in einem excentrischen Sinne das gelten,
was Schopenhauer von dem im Schleier der Maja befangenen Menschen
sagt. Welt als Wille und Vorstellung I, S. 416 "Wie auf dem tobenden
Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt
und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug
vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig
der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium
individuationis". Ja es wäre von Apollo zu sagen, dass in ihm das
unerschütterte Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen
des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und
man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii
individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze
Lust und Weisheit des "Scheines", sammt seiner Schönheit, zu uns
spräche.
An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen
geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an
den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom
Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden
scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung
hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii
individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur
emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen,
das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht
wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem
alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei
dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des
Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung
das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet. Auch im
deutschen Mittelalter wälzten sich unter der gleichen dionysischen
Gewalt immer wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu
Ort: in diesen Sanct-Johann- und Sanct-Veittänzern erkennen wir die
bacchischen Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in
Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen. Es giebt
Menschen, die, aus Mangel an Erfahrung oder aus Stumpfsinn, sich von
solchen Erscheinungen wie von "Volkskrankheiten", spöttisch oder
bedauernd im Gefühl der eigenen Gesundheit abwenden: die Armen
ahnen freilich nicht, wie leichenfarbig und gespenstisch eben diese
ihre "Gesundheit" sich ausnimmt, wenn an ihnen das glühende Leben
dionysischer Schwärmer vorüberbraust.
Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht nur der Bund
zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete,
feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest
mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde
ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der
Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet:
unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das
Beethoven'sche Jubellied der "Freude" in ein Gemälde und bleibe mit
seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll
in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt
ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren,
feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder "freche Mode"
zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium
der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht
nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der
Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem
geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert
sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das
Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die
Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung.
Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so
tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches: als Gott fühlt er sich,
er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter
im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist
Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten
Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern
des Rausches. Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier
geknetet und behauen, der Mensch, und zu den Meisselschlägen des
dionysischen Weltenkünstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: "Ihr
stürzt nieder, Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt?" -
2.
Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegensatz, das
Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur
selbst, ohne Vermittelung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen,
und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf directem
Wege befriedigen: einmal als die Bilderwelt des Traumes, deren
Vollkommenheit ohne jeden Zusammenhang mit der intellectuellen Höhe
oder künstlerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als
rauschvolle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet,
sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische
Einheitsempfindung zu erlösen sucht. Diesen unmittelbaren
Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler "Nachahmer",
und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer
Rauschkünstler oder endlich - wie beispielsweise in der griechischen
Tragödie - zugleich Rausch- und Traumkünstler: als welchen wir uns
etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen Trunkenheit und
mystischen Selbstentäusserung, einsam und abseits von den schwärmenden
Chören niedersinkt und wie sich ihm nun, durch apollinische
Traumeinwirkung, sein eigener Zustand d.h. seine Einheit mit dem
innersten Grunde der Welt in einem gleichnissartigen Traumbilde
offenbart.
Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegenüberstellungen nahen
wir uns jetzt den Griechen, um zu erkennen, in welchem Grade und bis
zu welcher Höhe jene Kunsttriebe der Natur in ihnen entwickelt gewesen
sind: wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältniss
des griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach dem
aristotelischen Ausdrucke, "die Nachahmung der Natur" tiefer zu
verstehn und zu würdigen. Von den Träumen der Griechen ist trotz
aller Traumlitteratur derselben und zahlreichen Traumanecdoten nur
vermuthungsweise, aber doch mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen: bei
der unglaublich bestimmten und sicheren plastischen Befähigung ihres
Auges, sammt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man sich
nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Spätergeborenen, auch
für ihre Träume eine logische Causalität der Linien und Umrisse,
Farben und Gruppen, eine ihren besten Reliefs ähnelnde Folge
der Scenen vorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine
Vergleichung möglich wäre, gewiss berechtigen würde, die träumenden
Griechen als Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu
bezeichnen: in einem tieferen Sinne als wenn der moderne Mensch sich
hinsichtlich seines Traumes mit Shakespeare zu vergleichen wagt.
Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu sprechen, wenn
die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll, welche die dionysischen
Griechen von den dionysischen Barbaren trennt. Aus allen Enden der
alten Welt - um die neuere hier bei Seite zu lassen - von Rom bis
Babylon können wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen, deren
Typus sich, besten Falls, zu dem Typus der griechischen verhält,
wie der bärtige Satyr, dem der Bock Namen und Attribute verlieh, zu
Dionysus selbst. Fast überall lag das Centrum dieser Feste in einer
überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über
jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen hinweg flutheten;
gerade die wildesten Bestien der Natur wurden hier entfesselt, bis
zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die mir
immer als der eigentliche "Hexentrank" erschienen ist. Gegen die
fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntniss auf allen Land- und
Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang
völlig gesichert und geschützt durch die hier in seinem ganzen Stolz
sich aufrichtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner
gefährlicheren Macht entgegenhalten konnte als dieser fratzenhaft
ungeschlachten dionysischen. Es ist die dorische Kunst, in der
sich jene majestätisch-ablehnende Haltung des Apollo verewigt hat.
Bedenklicher und sogar unmöglich wurde dieser Widerstand, als endlich
aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus sich ähnliche Triebe
Bahnbrachen: jetzt beschränkte sich das Wirken des delphischen
Gottes darauf, dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit
abgeschlossene Versöhnung die vernichtenden Waffen aus der Hand zu
nehmen. Diese Versöhnung ist der wichtigste Moment in der Geschichte
des griechischen Cultus: wohin man blickt, sind die Umwälzungen
dieses Ereignisses sichtbar. Es war die Versöhnung zweier Gegner, mit
scharfer Bestimmung ihrer von jetzt ab einzuhaltenden Grenzlinien und
mit periodischer Uebersendung von Ehrengeschenken; im Grunde war die
Kluft nicht überbrückt. Sehen wir aber, wie sich unter dem Drucke
jenes Friedensschlusses die dionysische Macht offenbarte, so erkennen
wir jetzt, im Vergleiche mit jenen babylonischen Sakäen und ihrem
Rückschritte des Menschen zum Tiger und Affen, in den dionysischen
Orgien der Griechen die Bedeutung von Welterlösungsfesten und
Verklärungstagen.
Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erst
bei ihnen wird die Zerreissung des principii individuationis ein
künstlerisches Phänomen. Jener scheussliche Hexentrank aus Wollust
und Grausamkeit war hier ohne Kraft: nur die wundersame Mischung und
Doppelheit in den Affecten der dionysischen Schwärmer erinnert an ihn
- wie Heilmittel an tödtliche Gifte erinnern -, jene Erscheinung,
dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle Töne
entreisst. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder
der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust. In jenen
griechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der
Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu
seufzen habe. Der Gesang und die Gebärdensprache solcher zwiefach
gestimmter Schwärmer war für die homerisch- griechische Welt etwas
Neues und Unerhörtes: und insbesondere erregte ihr die dionysische
Musik Schrecken und Grausen. Wenn die Musik scheinbar bereits als
eine apollinische Kunst bekannt war, so war sie dies doch nur, genau
genommen, als Wellenschlag des Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur
Darstellung apollinischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik des
Apollo war dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeuteten
Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsam ist gerade das
Element, als unapollinisch, ferngehalten, das den Charakter der
dionysischen Musik und damit der Musik überhaupt ausmacht, die
erschütternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des Melos und
die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Im dionysischen
Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner
symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur
Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als
Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur
symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal
die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des
Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch
bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte,
die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm.
Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muss
der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäusserung angelangt
sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will: der
dithyrambische Dionysusdiener wird somit nur von Seinesgleichen
verstanden! Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Grieche auf
ihn blicken! Mit einem Erstaunen, das um so grösser war, als sich ihm
das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles doch eigentlich so fremd
nicht sei, ja dass sein apollinisches Bewusstsein nur wie ein Schleier
diese dionysische Welt vor ihm verdecke.
3.
Um dies zu begreifen, müssen wir jenes kunstvolle Gebäude der
apollinischen Cultur gleichsam Stein um Stein abtragen, bis wir die
Fundamente erblicken, auf die es begründet ist. Hier gewahren wir nun
zuerst die herrlichen olympischen Göttergestalten, die auf den Giebeln
dieses Gebäudes stehen, und deren Thaten in weithin leuchtenden
Reliefs dargestellt seine Friese zieren. Wenn unter ihnen auch Apollo
steht, als eine einzelne Gottheit neben anderen und ohne den Anspruch
einer ersten Stellung, so dürfen wir uns dadurch nicht beirren lassen.
Derselbe Trieb, der sich in Apollo versinnlichte, hat überhaupt jene
ganze olympische Welt geboren, und in diesem Sinne darf uns Apollo als
Vater derselben gelten. Welches war das ungeheure Bedürfniss, aus dem
eine so leuchtende Gesellschaft olympischer Wesen entsprang?
Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier
herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heiligkeit, nach
unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei
ihnen sucht, der wird unmuthig und enttäuscht ihnen bald den Rücken
kehren müssen. Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und
Pflicht: hier redet nur ein üppiges, ja triumphirendes Dasein zu
uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut
oder böse ist. Und so mag der Beschauer recht betroffen vor diesem
phantastischen Ueberschwang des Lebens stehn, um sich zu fragen, mit
welchem Zaubertrank im Leibe diese übermüthigen Menschen das Leben
genossen haben mögen, dass, wohin sie sehen, Helena, das "in süsser
Sinnlichkeit schwebende" Idealbild ihrer eignen Existenz, ihnen
entgegenlacht. Diesem bereits rückwärts gewandten Beschauer müssen
wir aber zurufen: "Geh' nicht von dannen, sondern höre erst, was die
griechische Volksweisheit von diesem selben Leben aussagt, das sich
hier mit so unerklärlicher Heiterkeit vor dir ausbreitet. Es geht die
alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem
Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als
er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für
den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und
unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen,
endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht: `Elendes
Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du
mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste
ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren
zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für
dich - bald zu sterben`."
Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische Götterwelt?
Wie die entzückungsreiche Vision des gefolterten Märtyrers zu seinen
Peinigungen.
Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt
uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und
Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er
vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes
ungeheure Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur, jene über
allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira jener Geier des
grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckensloos des weisen
Oedipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermorde
zwingt, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes, sammt ihren
mythischen Exempeln, an der die schwermüthigen Etrurier zu Grunde
gegangen sind - wurde von den Griechen durch jene künstlerische
Mittelwelt der Olympier fortwährend von Neuem überwunden, jedenfalls
verhüllt und dem Anblick entzogen. Um leben zu können, mussten die
Griechen diese Götter, aus tiefster Nöthigung, schaffen: welchen
Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der
ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen
apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympische
Götterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem
Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hätte jenes so reizbar empfindende,
so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Dasein
ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie
umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb,
der die Kunst in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende
Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt
entstehn, in der sich der hellenische "Wille" einen verklärenden
Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem
sie es selbst leben - die allein genügende Theodicee! Das Dasein
unter dem hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das an
sich Erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche Schmerz der
homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor
allem auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt von ihnen, mit
Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, "das Allerschlimmste
sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, überhaupt einmal
zu sterben". Wenn die Klage einmal ertönt, so klingt sie wieder vom
kurzlebenden Achilles, von dem blättergleichen Wechsel und Wandel
des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist
des grössten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu
sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. So ungestüm verlangt, auf der
apollinischen Stufe, der "Wille" nach diesem Dasein, so eins fühlt
sich der homerische Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zu seinem
Preisliede wird.
Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von den neueren
Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen
mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort "naiv" in Geltung
gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst
ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zustand ist, dem wir an der
Pforte jeder Cultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen
müssten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau's
sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am
Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte.
Wo uns das "Naive" in der Kunst begegnet, haben wir die höchste
Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen: welche immer erst ein
Titanenreich zu stürzen und Ungethüme zu tödten hat und durch kräftige
Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine schreckliche
Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger
geworden sein muss. Aber wie selten wird das Naive, jenes völlige
Verschlungensein in der Schönheit des Scheines, erreicht! Wie
unaussprechbar erhaben ist deshalb Homer, der sich, als Einzelner,
zu jener apollinischen Volkscultur verhält, wie der einzelne
Traumkünstler zur Traumbefähigung des Volks und der Natur überhaupt.
Die homerische "Naivetät" ist nur als der vollkommene Sieg der
apollinischen Illusion zu begreifen: es ist dies eine solche Illusion,
wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Absichten, so häufig
verwendet. Das wahre Ziel wird durch ein Wahnbild verdeckt: nach
diesem strecken wir die Hände aus, und jenes erreicht die Natur durch
unsre Täuschung. In den Griechen wollte der "Wille" sich selbst,
in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen; um
sich zu verherrlichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst als
verherrlichenwerth empfinden sie mussten sich in einer höheren Sphäre
wiedersehn, ohne dass diese vollendete Welt der Anschauung als
Imperativ oder als Vorwurf wirkte Dies ist die Sphäre der Schönheit,
in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen, sahen. Mit dieser
Schönheitsspiegelung kämpfte der hellenische "Wille" gegen das dem
künstlerischen correlative Talent zum Leiden und zur Weisheit des
Leidens und als Denkmal seines Sieges steht Homer vor uns, der naive
Künstler.
4.
Ueber diesen naiven Künstler giebt uns die Traumanalogie einige
Belehrung Wenn wir uns den Träumenden vergegenwärtigen, wie er, mitten
in der Illusion der Traumwelt und ohne sie zu stören, sich zuruft "es
ist ein Traum, ich will ihn weiter träumen", wenn wir hieraus auf eine
tiefe innere Lust des Traumanschauens zu schliessen haben, wenn wir
andererseits, um überhaupt mit dieser inneren Lust am Schauen träumen
zu können, den Tag und seine schreckliche Zudringlichkeit völlig
vergessen haben müssen so dürfen wir uns alle diese Erscheinungen
etwa in folgender Weise, unter der Leitung des traumdeutenden Apollo,
interpretiren. So gewiss von den beiden Hälften des Lebens, der
wachen und der träumenden Hälfte, uns die erstere als die ungleich
bevorzugtere, wichtigere, würdigere, lebenswerthere, ja allein gelebte
dünkt so möchte ich doch, bei allem Anscheine einer Paradoxie, für
jenen geheimnissvollen Grund unseres Wesens, dessen Erscheinung
wir sind, gerade die entgegengesetzte Werthschätzung des Traumes
behaupten. Je mehr ich nämlich hin der Natur jene allgewaltigen
Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum
Erlöstwerden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich
zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und
Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die
entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung
braucht: welchen Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm
bestehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d.h. als ein fortwährendes
Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als
empirische Realität zu empfinden genöthigt sind. Sehen wir also einmal
von unsrer eignen "Realität" für einen Augenblick ab, fassen wir unser
empirisches Dasein, wie das der Welt überhaupt, als eine in jedem
Moment erzeugte Vorstellung des Ur-Einen, so muss uns jetzt der Traum
als der Schein des Scheins, somit als eine noch höhere Befriedigung
der Urbegierde nach dem Schein hin gelten. Aus diesem selben Grunde
hat der innerste Kern der Natur jene unbeschreibliche Lust an dem
naiven Künstler und dem naiven Kunstwerke, das gleichlfalls nur
"Schein des Scheins" ist. Rafael, selbst einer jener unsterblichen
"Naiven", hat uns in einem gleichnissartigen Gemälde jenes
Depotenziren des Scheins zum Schein, den Urprozess des naiven
Künstlers und zugleich der apollinischen Cultur, dargestellt. In
seiner Transfiguration zeigt uns die untere Hälfte, mit dem besessenen
Knaben, den verzweifelnden Trägern, den rathlos geängstigten Jüngern,
die Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der
Welt der "Schein" ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs, des
Vaters der Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer
Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im
ersten Schein Befangenen nichts sehen - ein leuchtendes Schweben
in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden
Anschauen. Hier haben wir, in höchster Kunstsymbolik, jene
apollinische Schönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche
Weisheit des Silen, vor unseren Blicken und begreifen, durch
Intuition, ihre gegenseitige Nothwendigkeit Apollo aber tritt uns
wiederum als die Vergöttlichung des principii individuationis
entgegen, in dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine
Erlösung durch den Schein, sich vollzieht: er zeigt uns, mit erhabenen
Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nöthig ist, damit durch sie der
Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde und dann,
ins Anschauen derselben versunken, ruhig auf seinem schwankenden
Kahne, inmitten des Meeres, sitze.
Diese Vergöttlichung der Individuation kennt, wenn sie überhaupt
imperativisch und Vorschriften gebend gedacht wird, nur Ein Gesetz,
das Individuum d.h. die Einhaltung der Grenzen des Individuums,
das Maass im hellenischen Sinne. Apollo, als ethische Gottheit,
fordert von den Seinigen das Maass und, um es einhalten zu können,
Selbsterkenntniss. Und so läuft neben der ästhetischen Nothwendigkeit
der Schönheit die Forderung des "Erkenne dich selbst" und des "Nicht
zu viel!" her, während Selbstüberhebung und Uebermaass als die
eigentlich feindseligen Dämonen der nicht-apollinischen Sphäre, daher
als Eigenschaften der vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters,
und der ausser-apollinischen Welt d.h. der Barbarenwelt, erachtet
wurden. Wegen seiner titanenhaften Liebe zu den Menschen musste
Prometheus von den Geiern zerrissen werden, seiner übermässigen
Weisheit halber, die das Räthsel der Sphinx löste, musste Oedipus in
einen verwirrenden Strudel von Unthaten stürzen: so interpretirte der
delphische Gott die griechische Vergangenheit.
"Titanenhaft" und "barbarisch" dünkte dem apollinischen Griechen auch
die Wirkung, die das Dionysische erregte: ohne dabei sich verhehlen
zu können, dass er selbst doch zugleich auch innerlich mit jenen
gestürzten Titanen und Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr
empfinden: sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte
auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntniss,
der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe!
Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben! Das "Titanische" und das
"Barbarische" war zuletzt eine eben solche Nothwendigkeit wie das
Apollinische! Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und
die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der ekstatische
Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauberweisen hineinklang,
wie in diesen das ganze Uebermaass der Natur in Lust, Leid und
Erkenntniss, bis zum durchdringenden Schrei, laut wurde: denken wir
uns, was diesem dämonischen Volksgesange gegenüber der psalmodirende
Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaften Harfenklange, bedeuten
konnte! Die Musen der Künste des "Scheins" verblassten vor einer
Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit
des Silen rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olympier. Das
Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der
Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die
apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit,
der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich
aus dem Herzen der Natur heraus. Und so war, überall dort, wo das
Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet.
Aber eben so gewiss ist, dass dort, wo der erste Ansturm ausgehalten
wurde, das Ansehen und die Majestät des delphischen Gottes starrer und
drohender als je sich äusserte. Ich vermag nämlich den dorischen Staat
und die dorische Kunst mir nur als ein fortgesetztes Kriegslager des
Apollinischen zu erklären: nur in einem unausgesetzten Widerstreben
gegen das titanisch-barbarische Wesen des Dionysischen konnte
eine so trotzig-spröde, mit Bollwerken umschlossene Kunst, eine
so kriegsgemässe und herbe Erziehung, ein so grausames und
rücksichtsloses Staatswesen von längerer Dauer sein.
Bis zu diesem Punkte ist des Weiteren ausgeführt worden, was ich am
Eingange dieser Abhandlung bemerkte: wie das Dionysische und das
Apollinische in immer neuen auf einander folgenden Geburten, und sich
gegenseitig steigernd das hellenische Wesen beherrscht haben: wie
aus dem "erzenen" Zeitalter, mit seinen Titanenkämpfen und seiner
herben Volksphilosophie, sich unter dem Walten des apollinischen
Schönheitstriebes die homerische Welt entwickelt, wie diese "naive"
Herrlichkeit wieder von dem einbrechenden Strome des Dionysischen
verschlungen wird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich
das Apollinische zur starren Majestät der dorischen Kunst und
Weltbetrachtung erhebt. Wenn auf diese Weise die ältere hellenische
Geschichte, im Kampf jener zwei feindseligen Principien, in vier
grosse Kunststufen zerfällt: so sind wir jetzt gedrängt, weiter nach
dem letzten Plane dieses Werdens und Treibens zu fragen, falls uns
nicht etwa die letzterreichte Periode, die der dorischen Kunst, als
die Spitze und Absicht jener Kunsttriebe gelten sollte: und hier
bietet sich unseren Blicken das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk
der attischen Tragödie und des dramatischen Dithyrambus, als das
gemeinsame Ziel beider Triebe, deren geheimnissvolles Ehebündniss,
nach langem vorhergehenden Kampfe, sich in einem solchen Kinde - das
zugleich Antigone und Kassandra ist - verherrlicht hat.
5.
Wir nahen uns jetzt dem eigentlichen Ziele unsrer Untersuchung, die
auf die Erkenntniss des dionysisch-apollinischen Genius und seines
Kunstwerkes, wenigstens auf das ahnungsvolle Verständniss jenes
Einheitsmysteriums gerichtet ist. Hier fragen wir nun zunächst, wo
jener neue Keim sich zuerst in der hellenischen Welt bemerkbar macht,
der sich nachher bis zur Tragödie und zum dramatischen Dithyrambus
entwickelt. Hierüber giebt uns das Alterthum selbst bildlich
Aufschluss, wenn es als die Urväter und Fackelträger der griechischen
Dichtung Homer und Archilochus auf Bildwerken, Gemmen u.s.w. neben
einander stellt, in der sicheren Empfindung, dass nur diese Beiden
gleich völlig originalen Naturen, von denen aus ein Feuerstrom auf die
gesammte griechische Nachwelt fortfliesse, zu erachten seien. Homer,
der in sich versunkene greise Träumer, der Typus des apollinischen,
naiven Künstlers, sieht nun staunend den leidenschaftlichen Kopf
des wild durch's Dasein getriebenen kriegerischen Musendieners
Archilochus: und die neuere Aesthetik wusste nur deutend hinzuzufügen,
dass hier dem "objectiven" Künstler der erste "subjective" entgegen
gestellt sei. Uns ist mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den
subjectiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder
Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven,
Erlösung vom "Ich" und Stillschweigen jedes individuellen Willens und
Gelüstens fordern, ja ohne Objectivität, ohne reines interesseloses
Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung
glauben können. Darum muss unsre Aesthetik erst jenes Problem lösen,
wie der "Lyriker" als Künstler möglich ist: er, der, nach der
Erfahrung aller Zeiten, immer "ich" sagt und die ganze chromatische
Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt.
Gerade dieser Archilochus erschreckt uns, neben Homer, durch den
Schrei seines Hasses und Hohnes, durch die trunknen Ausbrüche seiner
Begierde; ist er, der erste subjectiv genannte Künstler, nicht damit
der eigentliche Nichtkünstler? Woher aber dann die Verehrung, die
ihm, dem Dichter, gerade auch das delphische Orakel, der Herd der
"objectiven" Kunst, in sehr merkwürdigen Aussprüchen erwiesen hat?
Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns Schiller durch eine ihm
selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinende psychologische
Beobachtung Licht gebracht; er gesteht nämlich als den vorbereitenden
Zustand vor dem Actus des Dichtens nicht etwa eine Reihe von Bildern,
mit geordneter Causalität der Gedanken, vor sich und in sich gehabt zu
haben, sondern vielmehr eine musikalische Stimmung ("Die Empfindung
ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser
bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemüthsstimmung
geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee").
Nehmen wir jetzt das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik
hinzu, die überall als natürlich geltende Vereinigung, ja Identität
des Lyrikers mit dem Musiker - der gegenüber unsre neuere Lyrik wie
ein Götterbild ohne Kopf erscheint - so können wir jetzt, auf Grund
unsrer früher dargestellten aesthetischen Metaphysik, uns in folgender
Weise den Lyriker erklären. Er ist zuerst, als dionysischer Künstler,
gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins
geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik, wenn
anders diese mit Recht eine Wiederholung der Welt und ein zweiter
Abguss derselben genannt worden ist; jetzt aber wird diese Musik
ihm wieder wie in einem gleichnissartige Traumbilde, unter der
apollinischen Traumeinwirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose
Wiederschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung
im Scheine, erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes
Gleichniss oder Exempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits
in dem dionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm jetzt seine
Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumscene, die
jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust des Scheines,
versinnlicht. Das "Ich" des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des
Seins: seine "Subjectivität" im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine
Einbildung. Wenn Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine
rasende Liebe und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Lykambes
kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die vor uns in
orgiastischem Taumel tanzt: wir sehen Dionysus und die Mänaden, wir
sehen den berauschten Schwärmer Archilochus zum Schlafe niedergesunken
- wie ihn uns Euripides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf
hoher Alpentrift, in der Mittagssonne -: und jetzt tritt Apollo an ihn
heran und berührt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch-musikalische
Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleichsam Bilderfunken um
sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien
und dramatische Dithyramben heissen.
Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist in das reine
Anschauen der Bilder versunken. Der dionysische Musiker ist ohne jedes
Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben. Der
lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und
Einheitszustande eine Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen, die
eine ganz andere Färbung, Causalität und Schnelligkeit hat als jene
Welt des Plastikers und Epikers. Während der Letztgenannte in diesen
Bildern und nur in ihnen mit freudigem Behagen lebt und nicht müde
wird, sie bis auf die kleinsten Züge hin liebevoll anzuschauen,
während selbst das Bild des zürnenden Achilles für ihn nur ein Bild
ist, dessen zürnenden Ausdruck er mit jener Traumlust am Scheine
geniesst - so dass er, durch diesen Spiegel des Scheines, gegen das
Einswerden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestalten geschützt ist
-, so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichts als er selbst und
gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm, weshalb er als
bewegender Mittelpunkt jener Welt "ich" sagen darf: nur ist diese
Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch- realen
Menschen, sondern die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im
Grunde der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische
Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht. Nun denken wir uns
einmal, wie er unter diesen Abbildern auch sich selbst als Nichtgenius
erblickt d.h. sein "Subject", das ganze Gewühl subjectiver, auf ein
bestimmtes, ihm real dünkendes Ding gerichteter Leidenschaften und
Willensregungen; wenn es jetzt scheint als ob der lyrische Genius und
der mit ihm verbundene Nichtgenius eins wäre und als ob der Erstere
von sich selbst jenes Wörtchen "ich" spräche, so wird uns jetzt dieser
Schein nicht mehr verführen können, wie er allerdings diejenigen
verführt hat, die den Lyriker als den subjectiven Dichter bezeichnet
haben. In Wahrheit ist Archilochus, der leidenschaftlich entbrannte
liebende und hassende Mensch nur eine Vision des Genius, der bereits
nicht mehr Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen
Urschmerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch
ausspricht: während jener subjectiv wollende und begehrende Mensch
Archilochus überhaupt nie und nimmer Dichter sein kann. Es ist aber
gar nicht nöthig, dass der Lyriker gerade nur das Phänomen des
Menschen Archilochus vor sich sieht als Wiederschein des ewigen Seins;
und die Tragödie beweist, wie weit sich die Visionswelt des Lyrikers
von jenem allerdings zunächst stehenden Phänomen entfernen kann.
Schopenhauer, der sich die Schwierigkeit, die der Lyriker für die
philosophische Kunstbetrachtung macht, nicht verhehlt hat, glaubt
einen Ausweg gefunden zu haben, den ich nicht mit ihm gehen kann,
während ihm allein, in seiner tiefsinnigen Metaphysik der Musik,
das Mittel in die Hand gegeben war, mit dem jene Schwierigkeit
entscheidend beseitigt werden konnte: wie ich dies, in seinem Geiste
und zu seiner Ehre, hier gethan zu haben glaube. Dagegen bezeichnet er
als das eigenthümliche Wesen des Liedes Folgendes (Welt als Wille und
Vorstellung I, S. 295): "Es ist das Subject des Willens, d.h. das
eigene Wollen, was das Bewusstsein des Singenden füllt, oft als ein
entbundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch öfter aber als
ein gehemmtes (Trauer), immer als Affect, Leidenschaft, bewegter
Gemüthszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wird durch den
Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewusst als
Subjects des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütterliche,
selige Ruhe nunmehr in Contrast tritt mit dem Drange des immer
beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die Empfindung dieses
Contrastes, dieses Wechselspieles ist eigentlich, was sich im Ganzen
des Liedes ausspricht und was überhaupt den lyrischen Zustand
ausmacht. In diesem tritt gleichsam das reine Erkennen zu uns heran,
um uns vom Wollen und seinem Drange zu erlösen: wir folgen; doch nur
auf Augenblicke: immer von Neuem entreisst das Wollen, die Erinnerung
an unsere persönlichen Zwecke, uns der ruhigen Beschauung; aber auch
immer wieder entlockt uns dem Wollen die nächste schöne Umgebung, in
welcher sich die reine willenlose Erkenntniss uns darbietet. Darum
geht im Liede und der lyrischen Stimmung das Wollen (das persönliche
Interesse des Zwecks) und das reine Anschauen der sich darbietenden
Umgebung wundersam gemischt durch einander: es werden Beziehungen
zwischen beiden gesucht und imaginirt; die subjective Stimmung, die
Affection des Willens, theilt der angeschauten Umgebung und diese
wiederum jener ihre Farbe im Reflex mit: von diesem ganzen so
gemischten und getheilten Gemüthszustande ist das ächte Lied der
Abdruck".
Wer vermöchte in dieser Schilderung zu verkennen, dass hier die Lyrik
als eine unvollkommen erreichte, gleichsam im Sprunge und selten zum
Ziele kommende Kunst charakterisirt wird, ja als eine Halbkunst, deren
Wesen darin bestehen solle, dass das Wollen und das reine Anschauen
d.h. der unaesthetische und der aesthetische Zustand wundersam durch
einander gemischt seien? Wir behaupten vielmehr, dass der ganze
Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer
die Künste eintheilt, der des Subjectiven und des Objectiven,
überhaupt in der Aesthetik ungehörig ist, da das Subject, das wollende
und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner,
nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann. Insofern aber das
Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen
erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine
wahrhaft seiende Subject seine Erlösung im Scheine feiert. Denn dies
muss uns vor allem, zu unserer Erniedrigung und Erhöhung, deutlich
sein, dass die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer
Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja dass wir ebensowenig
die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind: wohl aber dürfen wir
von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer derselben
schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung
von Kunstwerken unsre höchste Würde haben - denn nur als aesthetisches
Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: - während
freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung kaum ein
andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr
dargestellten Schlacht haben. Somit ist unser ganzes Kunstwissen im
Grunde ein völlig illusorisches, weil wir als Wissende mit jenem Wesen
nicht eins und identisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und
Zuschauer jener Kunstkomödie, einen ewigen Genuss bereitet. Nur soweit
der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler
der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst;
denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen
Bild des Mährchens gleich, das die Augen drehn und sich selber
anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich
Dichter, Schauspieler und Zuschauer.
6.
In Betreff des Archilochus hat die gelehrte Forschung entdeckt, dass
er das Volkslied in die Litteratur eingeführt habe, und dass ihm,
dieser That halber, jene einzige Stellung neben Homer, in der
allgemeinen Schätzung der Griechen zukomme. Was aber ist das Volkslied
im Gegensatz zu dem völlig apollinischen Epos? Was anders als das
perpetuum vestigium einer Vereinigung des Apollinischen und des
Dionysischen; seine ungeheure, über alle Völker sich erstreckende
und in immer neuen Geburten sich steigernde Verbreitung ist uns ein
Zeugniss dafür, wie stark jener künstlerische Doppeltrieb der Natur
ist: der in analoger Weise seine Spuren im Volkslied hinterlässt,
wie die orgiastischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musik
verewigen. Ja es müsste auch historisch nachweisbar sein, wie jede
an Volksliedern reich productive Periode zugleich auf das Stärkste
durch dionysische Strömungen erregt worden ist, welche wir immer als
Untergrund und Voraussetzung des Volksliedes zu betrachten haben.
Das Volkslied aber gilt uns zu allernächst als musikalischer
Weltspiegel, als ursprüngliche Melodie, die sich jetzt eine parallele
Traumerscheinung sucht und diese in der Dichtung ausspricht. Die
Melodie ist also das Erste und Allgemeine, das deshalb auch mehrere
Objectivationen, in mehreren Texten, an sich erleiden kann. Sie
ist auch das bei weitem wichtigere und nothwendigere in der naiven
Schätzung des Volkes. Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich und
zwar immer wieder von Neuem; nichts Anderes will uns die Strophenform
des Volksliedes sagen: welches Phänomen ich immer mit Erstaunen
betrachtet habe, bis ich endlich diese Erklärung fand. Wer eine
Sammlung von Volksliedern z.B. des Knaben Wunderhorn auf diese Theorie
hin ansieht, der wird unzählige Beispiele finden, wie die fortwährend
gebärende Melodie Bilderfunken um sich aussprüht: die in ihrer
Buntheit, ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen eine
dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fortströmen wildfremde
Kraft offenbaren. Vom Standpunkte des Epos ist diese ungleiche und
unregelmässige Bilderwelt der Lyrik einfach zu verurtheilen: und dies
haben gewiss die feierlichen epischen Rhapsoden der apollinischen
Feste im Zeitalter des Terpander gethan.
In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die Sprache auf das
Stärkste angespannt, die Musik nachzuahmen: deshalb beginnt mit
Archilochus eine neue Welt der Poesie, die der homerischen in ihrem
tiefsten Grunde widerspricht. Hiermit haben wir das einzig mögliche
Verhältniss zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das
Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck
und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne
dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei
Hauptströmungen unterscheiden, jenachdem die Sprache die Erscheinungs-
und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte. Man denke nur einmal
tiefer über die sprachliche Differenz der Farbe, des syntaktischen
Bau's, des Wortmaterial's bei Homer und Pindar nach, um die Bedeutung
dieses Gegensatzes zu begreifen; ja es wird Einem dabei handgreiflich
deutlich, dass zwischen Homer und Pindar die orgiastischen
Flötenweisen des Olympus erklungen sein müssen, die noch im Zeitalter
des Aristoteles, inmitten einer unendlich entwickelteren Musik, zu
trunkner Begeisterung hinrissen und gewiss in ihrer ursprünglichen
Wirkung alle dichterischen Ausdrucksmittel der gleichzeitigen Menschen
zur Nachahmung aufgereizt haben. Ich erinnere hier an ein bekanntes,
unserer Aesthetik nur anstössig dünkendes Phänomen unserer Tage.
Wir erleben es immer wieder, wie eine Beethoven'sche Symphonie die
einzelnen Zuhörer zu einer Bilderrede nöthigt, sei es auch dass eine
Zusammenstellung der verschiedenen, durch ein Tonstück erzeugten
Bilderwelten sich recht phantastisch bunt, ja widersprechend ausnimmt:
an solchen Zusammenstellungen ihren armen Witz zu üben und das doch
wahrlich erklärenswerthe Phänomen zu übersehen, ist recht in der Art
jener Aesthetik. Ja selbst wenn der Tondichter in Bildern über eine
Composition geredet hat, etwa wenn er eine Symphonie als pastorale
und einen Satz als "Scene am Bach", einen anderen als "lustiges
Zusammensein der Landleute" bezeichnet, so sind das ebenfalls nur
gleichnissartige, aus der Musik geborne Vorstellungen - und nicht etwa
die nachgeahmten Gegenstände der Musik - Vorstellungen, die über den
dionysischen Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren
können, ja die keinen ausschliesslichen Werth neben anderen Bildern
haben. Diesen Prozess einer Entladung der Musik in Bildern haben wir
uns nun auf eine jugendfrische, sprachlich schöpferische Volksmenge
zu übertragen, um zur Ahnung zu kommen, wie das strophische Volkslied
entsteht, und wie das ganze Sprachvermögen durch das neue Princip der
Nachahmung der Musik aufgeregt wird.
Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende
Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen betrachten, so
können wir jetzt fragen: "als was erscheint die Musik im Spiegel der
Bildlichkeit und der Begriffe?" Sie erscheint als Wille, das Wort
im Schopenhauerischen Sinne genommen, d.h. als Gegensatz der
aesthetischen, rein beschaulichen willenlosen Stimmung. Hier
unterscheide man nun so scharf als möglich den Begriff des Wesens von
dem der Erscheinung: denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich
Wille sein, weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der Kunst
zu bannen wäre - denn der Wille ist das an sich Unaesthetische -;
aber sie erscheint als Wille. Denn um ihre Erscheinung in Bildern
auszudrücken, braucht der Lyriker alle Regungen der Leidenschaft, vom
Flüstern der Neigung bis zum Grollen des Wahnsinns; unter dem Triebe,
in apollinischen Gleichnissen von der Musik zu reden, versteht er die
ganze Natur und sich in ihr nur als das ewig Wollende, Begehrende,
Sehnende. Insofern er aber die Musik in Bildern deutet, ruht er selbst
in der stillen Meeresruhe der apollinischen Betrachtung, so sehr auch
alles, was er durch das Medium der Musik anschaut, um ihn herum in
drängender und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch
dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild im
Zustande des unbefriedigten Gefühls: sein eignes Wollen, Sehnen,
Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem er die Musik sich
deutet. Dies ist das Phänomen des Lyrikers: als apollinischer Genius
interpretirt er die Musik durch das Bild des Willens, während er
selbst, völlig losgelöst von der Gier des Willens, reines ungetrübtes
Sonnenauge ist.
Diese ganze Erörterung hält daran fest, dass die Lyrik eben so
abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik selbst, in ihrer
völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nicht braucht,
sondern ihn nur neben sich erträgt. Die Dichtung des Lyrikers kann
nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und
Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede
nöthigte. Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache
auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf den
Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht,
somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle Erscheinung und vor aller
Erscheinung ist. Ihr gegenüber ist vielmehr jede Erscheinung nur
Gleichniss: daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der
Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach
Aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung
der Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik,
während deren tiefster Sinn, durch alle lyrische Beredsamkeit, uns
auch keinen Schritt näher gebracht werden kann.
7.
Alle die bisher erörterten Kunstprincipien müssen wir jetzt zu Hülfe
nehmen, um uns in dem Labyrinth zurecht zu finden, als welches wir den
Ursprung der griechischen Tragödie bezeichnen müssen. Ich denke nichts
Ungereimtes zu behaupten, wenn ich sage, dass das Problem dieses
Ursprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt,
geschweige denn gelöst ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen der
antiken Ueberlieferung schon combinatorisch an einander genäht und
wieder aus einander gerissen sind. Diese Ueberlieferung sagt uns mit
voller Entschiedenheit, dass die Tragödie aus dem tragischen Chore
entstanden ist und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor war:
woher wir die Verpflichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem
eigentlichen Urdrama in's Herz zu sehen, ohne uns an den geläufigen
Kunstredensarten - dass er der idealische Zuschauer sei oder das
Volk gegenüber der fürstlichen Region der Scene zu vertreten habe
- irgendwie genügen zu lassen. Jener zuletzt erwähnte, für manchen
Politiker erhaben klingende Erläuterungsgedanke - als ob das
unwandelbare Sittengesetz von den demokratischen Athenern in
dem Volkschore dargestellt sei, der über die leidenschaftlichen
Ausschreitungen und Ausschweifungen der Könige hinaus immer Recht
behalte - mag noch so sehr durch ein Wort des Aristoteles nahegelegt
sein: auf die ursprüngliche Formation der Tragödie ist er ohne
Einfluss, da von jenen rein religiösen Ursprüngen der ganze Gegensatz
von Volk und Fürst, überhaupt jegliche politisch-sociale Sphäre
ausgeschlossen ist; aber wir möchten es auch in Hinsicht auf die uns
bekannte classische Form des Chors bei Aeschylus und Sophokles für
Blasphemie erachten, hier von der Ahnung einer "constitutionellen
Volksvertretung" zu reden, vor welcher Blasphemie Andere nicht
zurückgeschrocken sind. Eine constitutionelle Volksvertretung
kennen die antiken Staatsverfassungen in praxi nicht und haben sie
hoffentlich auch in ihrer Tragödie nicht einmal "geahnt".
Viel berühmter als diese politische Erklärung des Chors ist der
Gedanke A. W. Schlegel's, der uns den Chor gewissermaassen als den
Inbegriff und Extract der Zuschauermenge, als den "idealischen
Zuschauer" zu betrachten anempfiehlt. Diese Ansicht, zusammengehalten
mit jener historischen Ueberlieferung, dass ursprünglich die Tragödie
nur Chor war, erweist sich als das was sie ist, als eine rohe,
unwissenschaftliche, doch glänzende Behauptung, die ihren Glanz
aber nur durch ihre concentrirte Form des Ausdrucks, durch die echt
germanische Voreingenommenheit für Alles, was "idealisch" genannt wird
und durch unser momentanes Erstauntsein erhalten hat. Wir sind nämlich
erstaunt, sobald wir das uns gut bekannte Theaterpublicum mit jenem
Chore vergleichen und uns fragen, ob es wohl möglich sei, aus diesem
Publicum je etwas dem tragischen Chore Analoges herauszuidealisiren.
Wir leugnen dies im Stillen und wundern uns jetzt eben so über die
Kühnheit der Schlegel'schen Behauptung wie über die total verschiedene
Natur des griechischen Publicums. Wir hatten nämlich doch immer
gemeint, dass der rechte Zuschauer, er sei wer er wolle, sich immer
bewusst bleiben müsse, ein Kunstwerk vor sich zu haben, nicht eine
empirische Realität: während der tragische Chor der Griechen in den
Gestalten der Bühne leibhafte Existenzen zu erkennen genöthigt ist.
Der Okeanidenchor glaubt wirklich den Titan Prometheus vor sich zu
sehen und hält sich selbst für eben so real wie den Gott der Scene.
Und das sollte die höchste und reinste Art des Zuschauers sein, gleich
den Okeaniden den Prometheus für leiblich vorhanden und real zu
halten? Und es wäre das Zeichen des idealischen Zuschauers, auf die
Bühne zu laufen und den Gott von seinen Martern zu befreien? Wir
hatten an ein aesthetisches Publicum geglaubt und den einzelnen
Zuschauer für um so befähigter gehalten, je mehr er im Stande war,
das Kunstwerk als Kunst d.h. aesthetisch zu nehmen; und jetzt deutete
uns der Schlegel'sche Ausdruck an, dass der vollkommne idealische
Zuschauer die Welt der Scene gar nicht aesthetisch, sondern leibhaft
empirisch auf sich wirken lasse. O über diese Griechen! seufzen wir;
sie werfen uns unsre Aesthetik um! Daran aber gewöhnt, wiederholten
wir den Sdllegel'schen Spruch, so oft der Chor zur Sprache kam.
Aber jene so ausdrückliche Ueberlieferung redet hier gegen Schlegel:
der Chor an sich, ohne Bühne, also die primitive Gestalt der Tragödie
und jener Chor idealischer Zuschauer vertragen sich nicht mit
einander. Was wäre das für eine Kunstgattung, die aus dem Begriff
des Zuschauers herausgezogen wäre, als deren eigentliche Form der
"Zuschauer an sich" zu gelten hätte. Der Zuschauer ohne Schauspiel ist
ein widersinniger Begriff. Wir fürchten, dass die Geburt der Tragödie
weder aus der Hochachtung vor der sittlichen Intelligenz der Masse,
noch aus dem Begriff des schauspiellosen Zuschauers zu erklären
sei und halten dies Problem für zu tief, um von so flachen
Betrachtungsarten auch nur berührt zu werden.
Eine unendlich werthvollere Einsicht über die Bedeutung des Chors
hatte bereits Schiller in der berühmten Vorrede zur Braut von Messina
verrathen, der den Chor als eine lebendige Mauer betrachtete, die die
Tragödie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein
abzuschliessen und sich ihren idealen Boden und ihre poetische
Freiheit zu bewahren.
Schiller kämpft mit dieser seiner Hauptwaffe gegen den gemeinen
Begriff des Natürlichen, gegen die bei der dramatischen Poesie
gemeinhin geheischte Illusion. Während der Tag selbst auf dem Theater
nur ein künstlicher, die Architektur nur eine symbolische sei und die
metrische Sprache einen idealen Charakter trage, herrsche immer noch
der Irrthum im Ganzen: es sei nicht genug, dass man das nur als eine
poetische Freiheit dulde, was doch das Wesen aller Poesie sei. Die
Einführung des Chores sei der entscheidende Schritt, mit dem jedem
Naturalismus in der Kunst offen und ehrlich der Krieg erklärt werde.
- Eine solche Betrachtungsart ist es, scheint mir, für die unser
sich überlegen wähnendes Zeitalter das wegwerfende Schlagwort
"Pseudoidealismus" gebraucht. Ich fürchte, wir sind dagegen mit
unserer jetzigen Verehrung des Natürlichen und Wirklichen am
Gegenpol alles Idealismus angelangt, nämlich in der Region der
Wachsfigurencabinette. Auch in ihnen giebt es eine Kunst, wie bei
gewissen beliebten Romanen der Gegenwart: nur quäle man uns nicht
mit dem Anspruch, dass mit dieser Kunst der Schiller-Goethesche
"Pseudoidealismus" überwunden sei.
Freilich ist es ein "idealer" Boden, auf dem, nach der richtigen
Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der Chor der
ursprünglichen Tragödie, zu wandeln pflegt, ein Boden hoch
emporgehoben über die wirkliche Wandelbahn der Sterblichen. Der
Grieche hat sich für diesen Chor die Schwebegerüste eines fingirten
Naturzustandes gezimmert und auf sie hin fingirte Naturwesen gestellt.
Die Tragödie ist auf diesem Fundamente emporgewachsen und freilich
schon deshalb von Anbeginn an einem peinlichen Abkonterfeien der
Wirklichkeit enthoben gewesen. Dabei ist es doch keine willkürlich
zwischen Himmel und Erde hineinphantasirte Welt; vielmehr eine Welt
von gleicher Realität und Glaubwürdigkeit wie sie der Olymp sammt
seinen Insassen für den gläubigen Hellenen besass. Der Satyr als der
dionysische Choreut lebt in einer religiös zugestandenen Wirklichkeit
unter der Sanction des Mythus und des Cultus. Dass mit ihm die
Tragödie beginnt, dass aus ihm die dionysische Weisheit der Tragödie
spricht, ist ein hier uns eben so befremdendes Phänomen wie überhaupt
die Entstehung der Tragödie aus dem Chore. Vielleicht gewinnen
wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung
hinstelle, dass sich der Satyr, das fingirte Naturwesen, zu dem
Culturmenschen in gleicher Weise verhält, wie die dionysische Musik
zur Civilisation. Von letzterer sagt Richard Wagner, dass sie von
der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein vom Tageslicht. In
gleicher Weise, glaube ich, fühlte sich der griechische Culturmensch
im Angesicht des Satyrchors aufgehoben: und dies ist die nächste
Wirkung der dionysischen Tragödie, dass der Staat und die
Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem
übermächtigen Einheitsgefühle weichen, welches an das Herz der Natur
zurückführt. Der metaphysische Trost, - mit welchem, wie ich schon
hier andeute, uns jede wahre Tragödie entlässt - dass das Leben im
Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar
mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter
Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam
hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel
der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben.
Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum zartesten und
schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, der mit schneidigem
Blicke mitten in das furchtbare Vernidhtungstreiben der sogenannten
Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat
und in Gefahr ist, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des
Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet
ihn sich - das Leben.
Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der
gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält nämlich während
seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich alles persönlich
in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese
Kluft der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen
Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche
Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als
solche empfunden; eine asketische, willenverneinende Stimmung ist die
Frucht jener Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch
Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in
das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu
handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge
ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen
zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten.
Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das
Umschleiertsein durch die Illusion - das ist die Hamletlehre, nicht
jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel
Reflexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von Möglichkeiten nicht zum
Handeln kommt; nicht das Reflectiren, nein! - die wahre Erkenntniss,
der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln
antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen
Menschen. Jetzt verfängt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine
Welt nach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, das Dasein wird,
sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den Göttern oder in
einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der Bewusstheit der
einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das
Entsetzliche oder Absurde des Seins, jetzt versteht er das Symbolische
im Schicksal der Ophelia, jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes
Silen: es ekelt ihn.
Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende,
heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein vermag jene Ekelgedanken
über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen
umzubiegen, mit denen sich leben lässt: diese sind das Erhabene als
die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als
die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor des
Dithyrambus ist die rettende That der griechischen Kunst; an der
Mittelwelt dieser dionysischen Begleiter erschöpften sich jene vorhin
beschriebenen Anwandlungen.
8.
Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neueren Zeit sind Beide
Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und Natürliche gerichteten
Sehnsucht; aber mit welchem festen unerschrocknen Griffe fasste der
Grieche nach seinem Waldmenschen, wie verschämt und weichlich tändelte
der moderne Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden
weichgearteten Hirten! Die Natur, an der noch keine Erkenntniss
gearbeitet, in der die Riegel der Cultur noch unerbrochen sind - das
sah der Grieche in seinem Satyr, der ihm deshalb noch nicht mit dem
Affen zusammenfiel. Im Gegentheil: es war das Urbild des Menschen,
der Ausdruck seiner höchsten und stärksten Regungen, als begeisterter
Schwärmer, den die Nähe des Gottes entzückt, als mitleidender Genosse,
in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt, als Weisheitsverkünder
aus der tiefsten Brust der Natur heraus, als Sinnbild der
geschlechtlichen Allgewalt der Natur, die der Grieche gewöhnt ist mit
ehrfürchtigem Staunen zu betrachten. Der Satyr war etwas Erhabenes und
Göttliches: so musste er besonders dem schmerzlich gebrochnen Blick
des dionysischen Menschen dünken. Ihn hätte der geputzte, erlogene
Schäfer beleidigt: auf den unverhüllten und unverkümmert grossartigen
Schriftzügen der Natur weilte sein Auge in erhabener Befriedigung;
hier war die Illusion der Cultur von dem Urbilde des Menschen
weggewischt, hier enthüllte sich der wahre Mensch, der bärtige Satyr,
der zu seinem Gotte aufjubelt. Vor ihm schrumpfte der Culturmensch zur
lügenhaften Caricatur zusammen. Auch für diese Anfänge der tragischen
Kunst hat Schiller Recht: der Chor ist eine lebendige Mauer gegen
die anstürmende Wirklichkeit, weil er - der Satyrchor - das Dasein
wahrhaftiger, wirklicher, vollständiger abbildet als der gemeinhin
sich als einzige Realität achtende Culturmensch. Die Sphäre der Poesie
liegt nicht ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit
eines Dichterhirns: sie will das gerade Gegentheil sein, der
ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben deshalb den
lügenhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeit des Culturmenschen
von sich werfen. Der Contrast dieser eigentlichen Naturwahrheit und
der sich als einzige Realität gebärdenden Culturlüge ist ein ähnlicher
wie zwischen dem ewigen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und
der gesammten Erscheinungswelt: und wie die Tragödie mit ihrem
metaphysischen Troste auf das ewige Leben jenes Daseinskernes, bei
dem fortwährenden Untergange der Erscheinungen, hinweist, so spricht
bereits die Symbolik des Satyrchors in einem Gleichniss jenes
Urverhältniss zwischen Ding an sich und Erscheinung aus. Jener
idyllische Schäfer des modernen Menschen ist nur ein Konterfei der
ihm als Natur geltenden Summe von Bildungsillusionen; der dionysische
Grieche will die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft - er
sieht sich zum Satyr verzaubert.
Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen jubelt die schwärmende
Schaar der Dionysusdiener: deren Macht sie selbst vor ihren eignen
Augen verwandelt, so dass sie sich als wiederhergestellte Naturgenien,
als Satyrn, zu erblicken wähnen. Die spätere Constitution des
Tragödienchors ist die künstlerische Nachahmung jenes natürlichen
Phänomens; bei der nun allerdings eine Scheidung von dionysischen
Zuschauern und dionysischen Verzauberten nöthig wurde. Nur muss
man sich immer gegenwärtig halten, dass das Publicum der attischen
Tragödie sich selbst in dem Chore der Orchestra wiederfand, dass es im
Grunde keinen Gegensatz von Publicum und Chor gab: denn alles ist nur
ein grosser erhabener Chor von tanzenden und singenden Satyrn oder
von solchen, welche sich durch diese Satyrn repräsentiren lassen.
Das Schlegel'sche Wort muss sich uns hier in einem tieferen Sinne
erschliessen. Der Chor ist der "idealische Zuschauer", insofern er
der einzige Schauer ist, der Schauer der Visionswelt der Scene.
Ein Publicum von Zuschauern, wie wir es kennen, war den Griechen
unbekannt: in ihren Theatern war es Jedem, bei dem in concentrischen
Bogen sich erhebenden Terrassenbau des Zuschauerraumes, möglich, die
gesammte Culturwelt um sich herum ganz eigentlich zu übersehen und
in gesättigtem Hinschauen selbst Choreut sich zu wähnen. Nach dieser
Einsicht dürfen wir den Chor, auf seiner primitiven Stufe in der
Urtragödie, eine Selbstspiegelung des dionysischen Menschen nennen:
welches Phänomen am deutlichsten durch den Prozess des Schauspielers
zu machen ist, der, bei wahrhafter Begabung, sein von ihm
darzustellendes Rollenbild zum Greifen wahrnehmbar vor seinen Augen
schweben sieht. Der Satyrchor ist zu allererst eine Vision der
dionysischen Masse, wie wiederum die Welt der Bühne eine Vision dieses
Satyrchors ist: die Kraft dieser Vision ist stark genug, um gegen den
Eindruck der "Realität", gegen die rings auf den Sitzreihen gelagerten
Bildungsmenschen den Blick stumpf und unempfindlich zu machen. Die
Form des griechischen Theaters erinnert an ein einsames Gebirgsthal:
die Architektur der Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild,
welches die im Gebirge herumschwärmenden Bacchen von der Höhe aus
erblicken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte ihnen das Bild
des Dionysus offenbar wird.
Jene künstlerische Urerscheinung, die wir hier zur Erklärung des
Tragödienchors zur Sprache bringen, ist, bei unserer gelehrtenhaften
Anschauung über die elementaren künstlerischen Prozesse, fast
anstössig; während nichts ausgemachter sein kann, als dass der Dichter
nur dadurch Dichter ist, dass er von Gestalten sich umringt sieht,
die vor ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er
hineinblickt. Durch eine eigenthümliche Schwäche der modernen Begabung
sind wir geneigt, uns das aesthetische Urphänomen zu complicirt und
abstract vorzustellen. Die Metapher ist für den ächten Dichter nicht
eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm
wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt. Der Character ist für
ihn nicht etwas aus zusammengesuchten Einzelzügen componirtes Ganzes,
sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendige Person, die
von der gleichen Vision des Malers sich nur durch das fortwährende
Weiterleben und Weiterhandeln unterscheidet. Wodurch schildert Homer
so viel anschaulicher als alle Dichter? Weil er um so viel mehr
anschaut. Wir reden über Poesie so abstract, weil wir alle schlechte
Dichter zu sein pflegen. Im Grunde ist das aesthetische Phänomen
einfach; man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel
zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu leben, so ist
man Dichter; man fühle nur den Trieb, sich selbst zu verwandeln und
aus anderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist man Dramatiker.
Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen Masse diese
künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von einer solchen
Geisterschaar umringt zu sehen, mit der sie sich innerlich eins weiss.
Dieser Prozess des Tragödienchors ist das dramatische Urphänomen: sich
selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man
wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen
wäre. Dieser Prozess steht an dem Anfang der Entwickelung des Dramas.
Hier ist etwas Anderes als der Rhapsode, der mit seinen Bildern nicht
verschmilzt, sondern sie, dem Maler ähnlich, mit betrachtendem Auge
ausser sich sieht; hier ist bereits ein Aufgeben des Individuums
durch Einkehr in eine fremde Natur. Und zwar tritt dieses Phänomen
epidemisch auf: eine ganze Schaar fühlt sich in dieser Weise
verzaubert. Der Dithyramb ist deshalb wesentlich von jedem anderen
Chorgesange unterschieden. Die Jungfrauen, die, mit Lorbeerzweigen
in der Hand, feierlich zum Tempel des Apollo ziehn und dabei ein
Prozessionslied singen, bleiben, wer sie sind, und behalten ihren
bürgerlichen Namen: der dithyrambische Chor ist ein Chor von
Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre sociale
Stellung völlig vergessen ist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb
aller Gesellschaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden. Alle
andere Chorlyrik der Hellenen ist nur eine ungeheure Steigerung des
apollinischen Einzelsängers; während im Dithyramb eine Gemeinde
von unbewussten Schauspielern vor uns steht, die sich selbst unter
einander als verwandelt ansehen.
Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller dramatischen Kunst. In
dieser Verzauberung sieht sich der dionysische Schwärmer als Satyr,
und als Satyr wiederum schaut er den Gott d.h. er sieht in seiner
Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apollinische Vollendung
seines Zustandes. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollständig.
Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tragödie als den
dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder
in einer apollinischen Bilderwelt entladet. Jene Chorpartien, mit
denen die Tragödie durchflochten ist, sind also gewissermaassen der
Mutterschooss des ganzen sogenannten Dialogs d.h. der gesammten
Bühnenwelt, des eigentlichen Dramas. In mehreren auf einander
folgenden Entladungen strahlt dieser Urgrund der Tragödie jene Vision
des Dramas aus: die durchaus Traumerscheinung und insofern epischer
Natur ist, andrerseits aber, als Objectivation eines dionysischen
Zustandes, nicht die apollinische Erlösung im Scheine, sondern im
Gegentheil das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem
Ursein darstellt. Somit ist das Drama die apollinische Versinnlichung
dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen und dadurch wie durch eine
ungeheure Kluft vom Epos abgeschieden.
Der Chor der griechischen Tragödie, das Symbol der gesammten
dionysisch erregten Masse, findet an dieser unserer Auffassung seine
volle Erklärung. Während wir, mit der Gewöhnung an die Stellung eines
Chors auf der modernen Bühne, zumal eines Opernchors, gar nicht
begreifen konnten, wie jener tragische Chor der Griechen älter,
ursprünglicher, ja wichtiger sein sollte, als die eigentliche
"Action", - wie dies doch so deutlich überliefert war - während
wir wiederum mit jener überlieferten hohen Wichtigkeit und
Ursprünglichkeit nicht reimen konnten, warum er doch nur aus niedrigen
dienenden Wesen, ja zuerst nur aus bocksartigen Satyrn zusammengesetzt
worden sei, während uns die Orchestra vor der Scene immer ein Räthsel
blieb, sind wir jetzt zu der Einsicht gekommen, dass die Scene sammt
der Action im Grunde und ursprünglich nur als Vision gedacht wurde,
dass die einzige "Realität" eben der Chor ist, der die Vision aus sich
erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und
des Wortes redet. Dieser Chor schaut in seiner Vision seinen Herrn und
Meister Dionysus und ist darum ewig der dienende Chor: er sieht, wie
dieser, der Gott, leidet und sich verherrlicht, und handelt deshalb
selbst nicht. Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden
Stellung ist er doch der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der
Natur und redet darum, wie diese, in der Begeisterung Orakel- und
Weisheitssprüche: als der mitleidende ist er zugleich der weise, aus
dem Herzen der Welt die Wahrheit verkündende. So entsteht denn jene
phantastische und so anstössig scheinende Figur des weisen und
begeisterten Satyrs, der zugleich "der tumbe Mensch" im Gegensatz zum
Gotte ist: Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe, ja Symbol
derselben und zugleich Verkünder ihrer Weisheit und Kunst: Musiker,
Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person.
Dionysus, der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der Vision, ist
gemäss dieser Erkenntniss und gemäss der Ueberlieferung, zuerst, in
der allerältesten Periode der Tragödie, nicht wahrhaft vorhanden,
sondern wird nur als vorhanden vorgestellt: d.h. ursprünglich ist die
Tragödie nur "Chor" und nicht "Drama". Später wird nun der Versuch
gemacht, den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt
sammt der verklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar darzustellen;
damit beginnt das "Drama" im engeren Sinne. Jetzt bekommt der
dithyrambische Chor die Aufgabe, die Stimmung der Zuhörer bis zu dem
Grade dionysisch anzuregen, dass sie, wenn der tragische Held auf
der Bühne erscheint, nicht etwa den unförmlich maskirten Menschen
sehen, sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene
Visionsgestalt. Denken wir uns Admet mit tiefem Sinnen seiner jüngst
abgeschiedenen Gattin Alcestis gedenkend und ganz im geistigen
Anschauen derselben sich verzehrend - wie ihm nun plötzlich ein
ähnlich gestaltetes, ähnlich schreitendes Frauenbild in Verhüllung
entgegengeführt wird: denken wir uns seine plötzliche zitternde
Unruhe, sein stürmisches Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung
- so haben wir ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch
erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreiten sah, mit
dessen Leiden er bereits eins geworden ist. Unwillkürlich übertrug
er das ganze magisch vor seiner Seele zitternde Bild des Gottes auf
jene maskirte Gestalt und löste ihre Realität gleichsam in eine
geisterhafte Unwirklichkeit auf. Dies ist der apollinische
Traumeszustand, in dem die Welt des Tages sich verschleiert und eine
neue Welt, deutlicher, verständlicher, ergreifender als jene und doch
schattengleicher, in fortwährendem Wechsel sich unserem Auge neu
gebiert. Demgemäss erkennen wir in der Tragödie einen durchgreifenden
Stilgegensatz: Sprache, Farbe, Beweglichkeit, Dynamik der Rede
treten in der dionysischen Lyrik des Chors und andrerseits in der
apollinischen Traumwelt der Scene als völlig gesonderte Sphären des
Ausdrucks aus einander. Die apollinischen Erscheinungen, in denen sich
Dionysus objectivirt, sind nicht mehr "ein ewiges Meer, ein wechselnd
Weben, ein glühend Leben", wie es die Musik des Chors ist, nicht mehr
jene nur empfundenen, nicht zum Bilde verdichteten Kräfte, in denen
der begeisterte Dionysusdiener die Nähe des Gottes spürt: jetzt
spricht, von der Scene aus, die Deutlichkeit und Festigkeit der
epischen Gestaltung zu ihm, jetzt redet Dionysus nicht mehr durch
Kräfte, sondern als epischer Held, fast mit der Sprache Homers.
9.
Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tragödie, im
Dialoge, auf die Oberfläche kommt, sieht einfach, durchsichtig, schön
aus. In diesem Sinne ist der Dialog ein Abbild des Hellenen, dessen
Natur sich im Tanze offenbart, weil im Tanze die grösste Kraft nur
potenziell ist, aber sich in der Geschmeidigkeit und Ueppigkeit der
Bewegung verräth. So überrascht uns die Sprache der sophokleischen
Helden durch ihre apollinische Bestimmtheit und Helligkeit, so dass
wir sofort bis in den innersten Grund ihres Wesens zu blicken wähnen,
mit einigem Erstaunen, dass der Weg bis zu diesem Grunde so kurz
ist. Sehen wir aber einmal von dem auf die Oberfläche kommenden und
sichtbar werdenden Charakter des Helden ab - der im Grunde nichts mehr
ist als das auf eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d.h. Erscheinung
durch und durch - dringen wir vielmehr in den Mythus ein, der in
diesen hellen Spiegelungen sich projicirt, so erleben wir plötzlich
ein Phänomen, das ein umgekehrtes Verhältniss zu einem bekannten
optischen hat. Wenn wir bei einem kräftigen Versuch, die Sonne in's
Auge zu fassen, uns geblendet abwenden, so haben wir dunkle farbige
Flecken gleichsam als Heilmittel vor den Augen: umgekehrt sind
jene Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das
Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes in's
Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur
Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blickes. Nur in diesem
Sinne dürfen wir glauben, den ernsthaften und bedeutenden Begriff der
"griechischen Heiterkeit" richtig zu fassen; während wir allerdings
den falsch verstandenen Begriff dieser Heiterkeit im Zustande
ungefährdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen der Gegenwart
antreffen.
Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückselige
Oedipus, ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der
zum Irrthum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber
am Ende durch sein ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft
um sich ausübt, die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist. Der
edle Mensch sündigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter sagen:
durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche Ordnung, ja die
sittliche Welt zu Grunde gehen, eben durch dieses Handeln wird ein
höherer magischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf
den Ruinen der umgestürzten alten gründen. Das will uns der Dichter,
insofern er zugleich religiöser Denker ist, sagen: als Dichter zeigt
er uns zuerst einen wunderbar geschürzten Prozessknoten, den der
Richter langsam, Glied für Glied, zu seinem eigenen Verderben löst;
die echt hellenische Freude an dieser dialektischen Lösung ist so
gross, dass hierdurch ein Zug von überlegener Heiterkeit über das
ganze Werk kommt, der den schauderhaften Voraussetzungen jenes
Prozesses überall die Spitze abbricht. Im "Oedipus auf Kolonos"
treffen wir diese selbe Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklärung
emporgehoben; dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greise
gegenüber, der allem, was ihn betrifft, rein als Leidender
preisgegeben ist - steht die überirdische Heiterkeit, die aus
göttlicher Sphäre herniederkommt und uns andeutet, dass der Held in
seinem rein passiven Verhalten seine höchste Activität erlangt, die
weit über sein Leben hinausgreift, während sein bewusstes Tichten und
Trachten im früheren Leben ihn nur zur Passivität geführt hat. So wird
der für das sterbliche Auge unauflöslich verschlungene Prozessknoten
der Oedipusfabel langsam entwirrt - und die tiefste menschliche Freude
überkommt uns bei diesem göttlichen Gegenstück der Dialektik. Wenn wir
mit dieser Erklärung dem Dichter gerecht geworden sind, so kann doch
immer noch gefragt werden, ob damit der Inhalt des Mythus erschöpft
ist: und hier zeigt sich, dass die ganze Auffassung des Dichters
nichts ist als eben jenes Lichtbild, welches uns, nach einem Blick in
den Abgrund, die heilende Natur vorhält. Oedipus der Mörder seines
Vaters, der Gatte seiner Mutter, Oedipus der Räthsellöser der Sphinx!
Was sagt uns die geheimnissvolle Dreiheit dieser Schicksalsthaten?
Es giebt einen uralten, besonders persischen Volksglauben, dass ein
weiser Magier nur aus Incest geboren werden könne: was wir uns, im
Hinblick auf den räthsellösenden und seine Mutter freienden Oedipus,
sofort so zu interpretiren haben, dass dort, wo durch weissagende und
magische Kräfte der Bann von Gegenwart und Zukunft, das starre Gesetz
der Individuation, und überhaupt der eigentliche Zauber der Natur
gebrochen ist, eine ungeheure Naturwidrigkeit - wie dort der Incest -
als Ursache vorausgegangen sein muss; denn wie könnte man die Natur
zum Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch,
dass man ihr siegreich widerstrebt, d.h. durch das Unnatürliche?
Diese Erkenntniss sehe ich in jener entsetzlichen Dreiheit der
Oedipusschicksale ausgeprägt: derselbe, der das Räthsel der Natur -
jener doppeltgearteten Sphinx - löst, muss auch als Mörder des Vaters
und Gatte der Mutter die heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja, der
Mythus scheint uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade
die dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der,
welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung
stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren habe.
"Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Weisen: Weisheit ist
ein Verbrechen an der Natur": solche schreckliche Sätze ruft uns der
Mythus zu: der hellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahl
die erhabene und furchtbare Memnonssäule des Mythus, so dass er
plötzlich zu tönen beginnt - in sophokleischen Melodieen!
Der Glorie der Passivität stelle ich jetzt die Glorie der Activität
gegenüber, welche den Prometheus des Aeschylus umleuchtet. Was uns
hier der Denker Aeschylus zu sagen hatte, was er aber als Dichter
durch sein gleichnissartiges Bild uns nur ahnen lässt, das hat uns
der jugendliche Goethe in den verwegenen Worten seines Prometheus zu
enthüllen gewusst:
"Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu geniessen und zu freuen sich
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!"
Der Mensch, in's Titanische sich steigernd, erkämpft sich selbst seine
Cultur und zwingt die Götter sich mit ihm zu verbinden, weil er in
seiner selbsteignen Weisheit die Existenz und die Schranken derselben
in seiner Hand hat. Das Wunderbarste an jenem Prometheusgedicht, das
seinem Grundgedanken nach der eigentliche Hymnus der Unfrömmigkeit
ist, ist aber der tiefe aeschyleische Zug nach Gerechtigkeit: das
unermessliche Leid des kühnen "Einzelnen" auf der einen Seite, und die
göttliche Noth, ja Ahnung einer Götterdämmerung auf der andern, die
zur Versöhnung, zum metaphysischen Einssein zwingende Macht jener
beiden Leidenswelten - dies alles erinnert auf das Stärkste an den
Mittelpunkt und Hauptsatz der aeschyleischen Weltbetrachtung, die über
Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtigkeit thronen sieht.
Bei der erstaunlichen Kühnheit, mit der Aeschylus die olympische
Welt auf seine Gerechtigkeitswagschalen stellt, müssen wir uns
vergegenwärtigen, dass der tiefsinnige Grieche einen unverrückbar
festen Untergrund des metaphysischen Denkens in seinen Mysterien
hatte, und dass sich an den Olympiern alle seine skeptischen
Anwandelungen entladen konnten. Der griechische Künstler insbesondere
empfand im Hinblick auf diese Gottheiten ein dunkles Gefühl
wechselseitiger Abhängigkeit: und gerade im Prometheus des Aeschylus
ist dieses Gefühl symbolisirt. Der titanische Künstler fand in sich
den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und olympische Götter
wenigstens vernichten zu können: und dies durch seine höhere Weisheit,
die er freilich durch ewiges Leiden zu büssen gezwungen war. Das
herrliche "Können" des grossen Genius, das selbst mit ewigem Leide zu
gering bezahlt ist, der herbe Stolz des Künstlers - das ist Inhalt und
Seele der aeschyleischen Dichtung, während Sophokles in seinem Oedipus
das Siegeslied des Heiligen präludirend anstimmt. Aber auch mit jener
Deutung, die Aeschylus dem Mythus gegeben hat, ist dessen erstaunliche
Schreckenstiefe nicht ausgemessen: vielmehr ist die Werdelust des
Künstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen
Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem
schwarzen See der Traurigkeit spiegelt. Die Prometheussage ist ein
ursprüngliches Eigenthum der gesammten arischen Völkergemeinde und ein
Document für deren Begabung zum Tiefsinnig-Tragischen, ja es möchte
nicht ohne Wahrscheinlichkeit sein, dass diesem Mythus für das arische
Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung innewohnt, die der
Sündenfallmythus für das semitische hat, und dass zwischen beiden
Mythen ein Verwandtschaftsgrad existiert, wie zwischen Bruder
und Schwester. Die Voraussetzung jenes Prometheusmythus ist der
überschwängliche Werth, den eine naive Menschheit dem Feuer beilegt
als dem wahren Palladium jeder aufsteigenden Cultur: dass aber der
Mensch frei über das Feuer waltet und es nicht nur durch ein Geschenk
vom Himmel, als zündenden Blitzstrahl oder wärmenden Sonnenbrand
empfängt, erschien jenen beschaulichen Ur-Menschen als ein Frevel,
als ein Raub an der göttlichen Natur. Und so stellt gleich das erste
philosophische Problem einen peinlichen unlösbaren Widerspruch
zwischen Mensch und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die
Pforte jeder Cultur. Das Beste und Höchste, dessen die Menschheit
theilhaftig werden kann, erringt sie durch einen Frevel und muss nun
wieder seine Folgen dahinnehmen, nämlich die ganze Fluth von Leiden
und von Kümmernissen mit denen die beleidigten Himmlischen das edel
emporstrebende Menschengeschlecht heimsuchen - müssen: ein herber
Gedanke, der durch die Würde, die er dem Frevel ertheilt, seltsam
gegen den semitischen Sündenfallmythus absticht, in welchem die
Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die
Lüsternheit, kurz eine Reihe vornehmlich weiblicher Affectionen
als der Ursprung des Uebels angesehen wurde. Das, was die arische
Vorstellung auszeichnet, ist die erhabene Ansicht von der activen
Sünde als der eigentlich prometheischen Tugend: womit zugleich der
ethische Untergrund der pessimistischen Tragödie gefunden ist, als
die Rechtfertigung des menschlichen Uebels, und zwar sowohl der
menschlichen Schuld, als des dadurch verwirkten Leidens. Das Unheil
im Wesen der Dinge - das der beschauliche Arier nicht geneigt ist
wegzudeuteln -, der Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm
als ein Durcheinander verschiedener Welten, z.B. einer göttlichen und
einer menschlichen, von denen jede als Individuum im Recht ist, aber
als einzelne neben einer andern für ihre Individuation zu leiden
hat. Bei dem heroischen Drange des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem
Versuche über den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das
eine Weltwesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den
Dingen verborgenen Urwiderspruch d.h. er frevelt und leidet. So wird
von den Ariern der Frevel als Mann, von den Semiten die Sünde als Weib
verstanden, so wie auch der Urfrevel vom Manne, die Ursünde vom Weibe
begangen wird. Uebrigens sagt der Hexenchor:
"Wir nehmen das nicht so genau:
Mit tausend Schritten macht's die Frau;
Doch wie sie auch sich eilen kann,
Mit einem Sprunge macht's der Mann".
Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht - nämlich die dem
titanisch strebenden Individuum gebotene Nothwendigkeit des Frevels
- der muss auch zugleich das Unapollinische dieser pessimistischen
Vorstellung empfinden; denn Apollo will die Einzelwesen gerade dadurch
zur Ruhe bringen, dass er Grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass
er immer wieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mit seinen
Forderungen der Selbsterkenntniss und des Maasses erinnert. Damit
aber bei dieser apollinischen Tendenz die Form nicht zu ägyptischer
Steifigkeit und Kälte erstarre, damit nicht unter dem Bemühen, der
einzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereich vorzuschreiben, die Bewegung
des ganzen See's ersterbe, zerstörte von Zeit zu Zeit wieder die hohe
Fluth des Dionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die der einseitig
apollinische "Wille" das Hellenenthum zu bannen suchte. Jene plötzlich
anschwellende Fluth des Dionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen
Wellenberge der Individuen auf ihren Rücken, wie der Bruder des
Prometheus, der Titan Atlas, die Erde. Dieser titanische Drang,
gleichsam der Atlas aller Einzelnen zu werden und sie mit breitem
Rücken höher und höher, weiter und weiter zu tragen, ist das
Gemeinsame zwischen dem Prometheischen und dem Dionysischen. Der
aeschyleische Prometheus ist in diesem Betracht eine dionysische
Maske, während in jenem vorhin erwähnten tiefen Zuge nach
Gerechtigkeit Aeschylus seine väterliche Abstammung von Apollo,
dem Gotte der Individuation und der Gerechtigkeitsgrenzen, dem
Einsichtigen verräth. Und so möchte das Doppelwesen des aeschyleischen
Prometheus, seine zugleich dionysische und apollinische Natur in
begrifflicher Formel so ausgedrückt werden können: "Alles Vorhandene
ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt."
Das ist deine Welt! Das heisst eine Welt! -
10.
Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die griechische
Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum
Gegenstand hatte und dass der längere Zeit hindurch einzig vorhandene
Bühnenheld eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf
behauptet werden, dass niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört
hat, der tragische Held zu sein, sondern dass alle die berühmten
Figuren der griechischen Bühne Prometheus, Oedipus u.s.w. nur Masken
jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Dass hinter allen diesen
Masken eine Gottheit steckt, das ist der eine wesentliche Grund für
die so oft angestaunte typische "Idealität" jener berühmten Figuren.
Es hat ich weiss nicht wer behauptet, dass alle Individuen als
Individuen komisch und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen
wäre, dass die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen
Bühne nicht ertragen konnten. In der That scheinen sie so empfunden
zu haben: wie überhaupt jene platonische Unterscheidung und
Werthabschätzung der "Idee" im Gegensatze zum "Idol", zum Abbild tief
im hellenischen Wesen begründet liegt. Um uns aber der Terminologie
Plato's zu bedienen, so wäre von den tragischen Gestalten der
hellenischen Bühne etwa so zu reden: der eine wahrhaft reale Dionysus
erscheint in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines
kämpfenden Helden und gleichsam in das Netz des Einzelwillens
verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt,
ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und dass er
überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deutlichkeit erscheint,
ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen
dionysischen Zustand durch jene gleichnissartige Erscheinung deutet.
In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysus der Mysterien,
jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von
dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen
zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt
werde: wobei angedeutet wird, dass diese Zerstückelung, das eigentlich
dionysische Leiden, gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und
Feuer sei, dass wir also den Zustand der Individuation als den Quell
und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu
betrachten hätten. Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind die
olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen entstanden. In
jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur
eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmüthigen
Herrschers. Die Hoffnung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt
des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungsvoll
zu begreifen haben: diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der
brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser Hoffnung giebt
es einen Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in
Individuen zertrümmerten Welt: wie es der Mythus durch die in ewige
Trauer versenkte Demeter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder
sich freut, als man ihr sagt, sie könne den Dionysus nocheinmal
gebären. In den angeführten Anschauungen haben wir bereits alle
Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung
und zugleich damit die Mysterienlehre der Tragödie zusammen: die
Grunderkenntniss von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung
der Individuation als des Urgrundes des Uebels, die Kunst als die
freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei,
als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit. -
Es ist früher angedeutet worden, dass das homerische Epos die Dichtung
der olympischen Cultur ist, mit der sie ihr eignes Siegeslied über
die Schrecken des Titanenkampfes gesungen hat. Jetzt, unter dem
übermächtigen Einflusse der tragischen Dichtung, werden die
homerischen Mythen von Neuem umgeboren und zeigen in dieser
Metempsychose, dass inzwischen auch die olympische Cultur von einer
noch tieferen Weltbetrachtung besiegt worden ist. Der trotzige Titan
Prometheus hat es seinem olympischen Peiniger angekündigt, dass einst
seiner Herrschaft die höchste Gefahr drohe, falls er nicht zur rechten
Zeit sich mit ihm verbinden werde. In Aeschylus erkennen wir das
Bündniss des erschreckten, vor seinem Ende bangenden Zeus mit dem
Titanen. So wird das frühere Titanenzeitalter nachträglich wieder aus
dem Tartarus ans Licht geholt. Die Philosophie der wilden und nackten
Natur schaut die vorübertanzenden Mythen der homerischen Welt mit der
unverhüllten Miene der Wahrheit an: sie erbleichen, sie zittern vor
dem blitzartigen Auge dieser Göttin - bis sie die mächtige Faust
des dionysischen Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit zwingt.
Die dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich des Mythus
als Symbolik ihrer Erkenntnisse und spricht diese theils in dem
öffentlichen Cultus der Tragödie, theils in den geheimen Begehungen
dramatischer Mysterienfeste, aber immer unter der alten mythischen
Hülle aus. Welche Kraft war dies, die den Prometheus von seinen Geiern
befreite und den Mythus zum Vehikel dionysischer Weisheit umwandelte?
Dies ist die heraklesmässige Kraft der Musik: als welche, in der
Tragödie zu ihrer höchsten Erscheinung gekommen, den Mythus mit neuer
tiefsinnigster Bedeutsamkeit zu interpretiren weiss; wie wir dies als
das mächtigste Vermögen der Musik früher schon zu charakterisiren
hatten. Denn es ist das Loos jedes Mythus, allmählich in die Enge
einer angeblich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von
irgend einer späteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen
Ansprüchen behandelt zu werden: und die Griechen waren bereits völlig
auf dem Wege, ihren ganzen mythischen Jugendtraum mit Scharfsinn und
Willkür in eine historisch-pragmatische Jugendgeschichte umzustempeln.
Denn dies ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn
nämlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den
strengen, verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus
als eine fertige Summe von historischen Ereignissen systematisirt
werden und man anfängt, ängstlich die Glaubwürdigkeit der Mythen
zu vertheidigen, aber gegen jedes natürliche Weiterleben und
Weiterwuchern derselben sich zu sträuben, wenn also das Gefühl für
den Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf
historische Grundlagen tritt. Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt
der neugeborne Genius der dionysischen Musik: und in seiner Hand
blühte er noch einmal, mit Farben, wie er sie noch nie gezeigt, mit
einem Duft, der eine sehnsüchtige Ahnung einer metaphysischen Welt
erregte. Nach diesem letzten Aufglänzen fällt er zusammen, seine
Blätter werden welk, und bald haschen die spöttischen Luciane des
Alterthums nach den von allen Winden fortgetragnen, entfärbten und
verwüsteten Blumen. Durch die Tragödie kommt der Mythus zu seinem
tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form; noch einmal erhebt er
sich, wie ein verwundeter Held, und der ganze Ueberschuss von Kraft,
sammt der weisheitsvollen Ruhe des Sterbenden, brennt in seinem Auge
mit letztem, mächtigem Leuchten.
Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen Sterbenden
noch einmal zu deinem Frohndienste zu zwingen suchtest? Er starb
unter deinen gewaltsamen Händen: und jetzt brauchtest du einen
nachgemachten, maskirten Mythus, der sich wie der Affe des Herakles
mit dem alten Prunke nur noch aufzuputzen wusste. Und wie dir der
Mythus starb, so starb dir auch der Genius der Musik: mochtest du
auch mit gierigem Zugreifen alle Gärten der Musik plündern, auch
so brachtest du es nur zu einer nachgemachten maskirten Musik. Und
weil du Dionysus verlassen, so verliess dich auch Apollo; jage alle
Leidenschaften von ihrem Lager auf und banne sie in deinen Kreis,
spitze und feile dir für die Reden deiner Helden eine sophistische
Dialektik zurecht - auch deine Helden haben nur nachgeahmte maskirte
Leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskirte Reden.
11.
Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen als sämmtliche
ältere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb durch Selbstmord, in
Folge eines unlösbaren Conflictes, also tragisch, während jene alle in
hohem Alter des schönsten und ruhigsten Todes verblichen sind. Wenn
es nämlich einem glücklichen Naturzustande gemäss ist, mit schöner
Nachkommenschaft und ohne Krampf vom Leben zu scheiden, so zeigt
uns das Ende jener älteren Kunstgattungen einen solchen glücklichen
Naturzustand: sie tauchen langsam unter, und vor ihren ersterbenden
Blicken steht schon ihr schönerer Nachwuchs und reckt mit muthiger
Gebärde ungeduldig das Haupt. Mit dem Tode der griechischen Tragödie
dagegen entstand eine ungeheure, überall tief empfundene Leere; wie
einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem einsamen
Eiland den erschütternden Schrei hörten "der grosse Pan ist todt": so
klang es jetzt wie ein schmerzlicher Klageton durch die hellenische
Welt: "die Tragödie ist todt! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren
gegangen! Fort, fort mit euch verkümmerten, abgemagerten Epigonen!
Fort in den Hades, damit ihr euch dort an den Brosamen der vormaligen
Meister einmal satt essen könnt!"
Als aber nun doch noch eine neue Kunstgattung aufblühte, die in der
Tragödie ihre Vorgängerin und Meisterin verehrte, da war mit Schrecken
wahrzunehmen, dass sie allerdings die Züge ihrer Mutter trage, aber
dieselben, die jene in ihrem langen Todeskampfe gezeigt hatte. Diesen
Todeskampf der Tragödie kämpfte Euripides; jene spätere Kunstgattung
ist als neue reattische Komödie bekannt. In ihr lebte die entartete
Gestalt der Tragödie fort, zum Denkmale ihres überaus mühseligen und
gewaltsamen Hinscheidens.
Bei diesem Zusammenhange ist die leidenschaftliche Zuneigung
begreiflich, welche die Dichter der neueren Komödie zu Euripides
empfanden; so dass der Wunsch des Philemon nicht weiter befremdet, der
sich sogleich aufhängen lassen mochte, nur um den Euripides in der
Unterwelt aufsuchen zu können: wenn er nur überhaupt überzeugt sein
dürfte, dass der Verstorbene auch jetzt noch bei Verstande sei.
Will man aber in aller Kürze und ohne den Anspruch, damit etwas
Erschöpfendes zu sagen, dasjenige bezeichnen, was Euripides mit
Menander und Philemon gemein hat und was für jene so aufregend
vorbildlich wirkte: so genügt es zu sagen, dass der Zuschauer von
Euripides auf die Bühne gebracht worden ist. Wer erkannt hat, aus
welchem Stoffe die prometheischen Tragiker vor Euripides ihre Helden
formten und wie ferne ihnen die Absicht lag, die treue Maske der
Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen, der wird auch über die gänzlich
abweichende Tendenz des Euripides im Klaren sein. Der Mensch des
alltäglichen Lebens drang durch ihn aus den Zuschauerräumen auf die
Scene, der Spiegel, in dem früher nur die grossen und kühnen Züge
zum Ausdruck kamen, zeigte jetzt jene peinliche Treue, die auch die
misslungenen Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der
typische Hellene der älteren Kunst, sank jetzt unter den Händen der
neueren Dichter zur Figur des Graeculus herab, der von jetzt ab als
gutmüthigverschmitzter Haussclave im Mittelpunkte des dramatischen
Interesse's steht. Was Euripides sich in den aristophanischen
"Fröschen" zum Verdienst anrechnet, dass er die tragische Kunst durch
seine Hausmittel von ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe, das
ist vor allem an seinen tragischen Helden zu spüren. Im Wesentlichen
sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Doppelgänger auf der
euripideischen Bühne und freute sich, dass jener so gut zu reden
verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht: man lernte selbst
bei Euripides sprechen, und dessen rühmt er sich selbst im Wettkampfe
mit Aeschylus: wie durch ihn jetzt das Volk kunstmässig und mit
den schlausten Sophisticationen zu beobachten, zu verhandeln und
Folgerungen zu ziehen gelernt habe. Durch diesen Umschwung der
öffentlichen Sprache hat er überhaupt die neuere Komödie möglich
gemacht. Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr, wie und mit
welchen Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf der Bühne vertreten
könne. Die bürgerliche Mittelmässigkeit, auf die Euripides alle seine
politischen Hoffnungen aufbaute, kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin
in der Tragödie der Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr
oder der Halbmensch den Sprachcharakter bestimmt hatten. Und so hebt
der aristophanische Euripides zu seinem Preise hervor, wie er das
allgemeine, allbekannte, alltägliche Leben und Treiben dargestellt
habe, über das ein Jeder zu urtheilen befähigt sei. Wenn jetzt die
ganze Masse philosophiere, mit unerhörter Klugheit Land und Gut
verwalte und ihre Prozesse führe, so sei dies sein Verdienst und der
Erfolg der von ihm dem Volke eingeimpften Weisheit.
An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durfte sich jetzt
die neuere Komödie wenden, für die Euripides gewissermaassen der
Chorlehrer geworden ist; nur dass diesmal der Chor der Zuschauer
eingeübt werden musste. Sobald dieser in der euripideischen Tonart
zu singen geübt war, erhob sich jene schachspielartige Gattung des
Schauspiels, die neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumphe der
Schlauheit und Verschlagenheit. Euripides aber - der Chorlehrer -
wurde unaufhörlich gepriesen: ja man würde sich getödtet haben, um
noch mehr von ihm zu lernen, wenn man nicht gewusst hätte, dass die
tragischen Dichter eben so todt seien wie die Tragödie. Mit ihr aber
hatte der Hellene den Glauben an seine Unsterblichkeit aufgegeben,
nicht nur den Glauben an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den
Glauben an eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekannten Grabschrift
"als Greis leichtsinnig und grillig" gilt auch vom greisen
Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, der Leichtsinn, die Laune
sind seine höchsten Gottheiten; der fünfte Stand, der des Sclaven,
kommt, wenigstens der Gesinnung nach, jetzt zur Herrschaft: und wenn
jetzt überhaupt noch von "griechischer Heiterkeit" die Rede sein
darf, so ist es die Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu
verantworten, nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder
Zukünftiges höher zu schätzen weiss als das Gegenwärtige. Dieser
Schein der "griechischen Heiterkeit" war es, der die tiefsinnigen und
furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christenthums so
empörte: ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernst und dem
Schrecken, dieses feige Sichgenügenlassen am bequemen Genuss nicht nur
verächtlich, sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung.
Und ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass die durch Jahrhunderte
fortlebende Anschauung des griechischen Alterthums mit fast
unüberwindlicher Zähigkeit jene blassrothe Heiterkeitsfarbe festhielt
- als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit seiner Geburt der
Tragödie, seinen Mysterien, seinen Pythagoras und Heraklit gegeben
hätte, ja als ob die Kunstwerke der grossen Zeit gar nicht vorhanden
wären, die doch - jedes für sich - aus dem Boden einer solchen
greisenhaften und sclavenmässigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht
zu erklären sind und auf eine völlig andere Weltbetrachtung als ihren
Existenzgrund hinweisen.
Wenn zuletzt behauptet wurde, dass Euripides den Zuschauer auf die
Bühne gebracht habe, um zugleich damit den Zuschauer zum Urtheil über
das Drama erst wahrhaft zu befähigen, so entsteht der Schein, als ob
die ältere tragische Kunst aus einem Missverhältniss zum Zuschauer
nicht herausgekommen sei und man möchte versucht sein, die radicale
Tendenz des Euripides, ein entsprechendes Verhältniss zwischen
Kunstwerk und Publicum zu erzielen, als einen Fortschritt über
Sophokles hinaus zu preisen. Nun aber ist "Publicum" nur ein Wort und
durchaus keine gleichartige und in sich verharrende Grösse. Woher
soll dem Künstler die Verpflichtung kommen, sich einer Kraft zu
accomodieren, die ihre Stärke nur in der Zahl hat? Und wenn er sich,
seiner Begabung und seinen Absichten nach, über jeden einzelnen dieser
Zuschauer erhaben fühlt, wie dürfte er vor dem gemeinsamen Ausdruck
aller dieser ihm untergeordneten Capacitäten mehr Achtung empfinden
als vor dem relativ am höchsten begabten einzelnen Zuschauer? In
Wahrheit hat kein griechischer Künstler mit grösserer Verwegenheit
und Selbstgenugsamkeit sein Publicum durch ein langes Leben hindurch
behandelt als gerade Euripides: er, der selbst da noch, als die Masse
sich ihm zu Füssen warf, in erhabenem Trotze seiner eigenen Tendenz
öffentlich in's Gesicht schlug, derselben Tendenz, mit der er über die
Masse gesiegt hatte. Wenn dieser Genius die geringste Ehrfurcht vor
dem Pandämonium des Publicums gehabt hätte, so wäre er unter den
Keulenschlägen seiner Misserfolge längst vor der Mitte seiner Laufbahn
zusammengebrochen. Wir sehen bei dieser Erwägung, dass unser Ausdruck,
Euripides habe den Zuschauer auf die Bühne gebracht, um den Zuschauer
wahrhaft urtheilsfähig zu machen, nur ein provisorischer war, und dass
wir nach einem tieferen Verständniss seiner Tendenz zu suchen haben.
Umgekehrt ist es ja allerseits bekannt, wie Aeschylus und Sophokles
Zeit ihres Lebens, ja weit über dasselbe hinaus, im Vollbesitze der
Volksgunst standen, wie also bei diesen Vorgängern des Euripides
keineswegs von einem Missverhältniss zwischen Kunstwerk und Publicum
die Rede sein kann. Was trieb den reichbegabten und unablässig zum
Schaffen gedrängten Künstler so gewaltsam von dem Wege ab, über dem
die Sonne der grössten Dichternamen und der unbewölkte Himmel der
Volksgunst leuchteten? Welche sonderbare Rücksicht auf den Zuschauer
führte ihn dem Zuschauer entgegen? Wie konnte er aus zu hoher Achtung
vor seinem Publicum - sein Publicum missachten?
Euripides fühlte sich - das ist die Lösung des eben dargestellten
Räthsels - als Dichter wohl über die Masse, nicht aber über, zwei
seiner Zuschauer erhaben: die Masse brachte er auf die Bühne, jene
beiden Zuschauer verehrte er als die allein urtheilsfähigen Richter
und Meister aller seiner Kunst: ihren Weisungen und Mahnungen folgend
übertrug er die ganze Welt von Empfindungen, Leidenschaften und
Erfahrungen, die bis jetzt auf den Zuschauerbänken als unsichtbarer
Chor zu jeder Festvorstellung sich einstellten, in die Seelen seiner
Bühnenhelden, ihren Forderungen gab er nach, als er für diese neuen
Charaktere auch das neue Wort und den neuen Ton suchte, in ihren
Stimmen allein hörte er die gültigen Richtersprüche seines Schaffens
eben so wie die siegverheissende Ermuthigung, wenn er von der Justiz
des Publicums sich wieder einmal verurtheilt sah.
Von diesen beiden Zuschauern ist der eine - Euripides selbst,
Euripides als Denker, nicht als Dichter. Von ihm könnte man sagen,
dass die ausserordentliche Fülle seines kritischen Talentes, ähnlich
wie bei Lessing, einen productiv künstlerischen Nebentrieb wenn nicht
erzeugt, so doch fortwährend befruchtet habe. Mit dieser Begabung,
mit aller Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens
hatte Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den
Meisterwerken seiner grossen Vorgänger wie an dunkelgewordenen
Gemälden Zug um Zug, Linie um Linie wiederzuerkennen. Und hier nun war
ihm begegnet, was dem in die tieferen Geheimnisse der aeschyleischen
Tragödie Eingeweihten nicht unerwartet sein darf: er gewahrte etwas
Incommensurables in jedem Zug und in jeder Linie, eine gewisse
täuschende Bestimmtheit und zugleich eine räthselhafte Tiefe, ja
Unendlichkeit des Hintergrundes. Die klarste Figur hatte immer noch
einen Kometenschweif an sich, der in's Ungewisse, Unaufhellbare zu
deuten schien. Dasselbe Zwielicht lag über dem Bau des Drama's, zumal
über der Bedeutung des Chors. Und wie zweifelhaft blieb ihm die Lösung
der ethischen Probleme! Wie fragwürdig die Behandlung der Mythen! Wie
ungleichmässig die Vertheilung von Glück und Unglück! Selbst in der
Sprache der älteren Tragödie war ihm vieles anstössig, mindestens
räthselhaft; besonders fand er zu viel Pomp für einfache Verhältnisse,
zu viel Tropen und Ungeheuerlichkeiten für die Schlichtheit der
Charaktere. So sass er, unruhig grübelnd, im Theater, und er, der
Zuschauer, gestand sich, dass er seine grossen Vorgänger nicht
verstehe. Galt ihm aber der Verstand als die eigentliche Wurzel alles
Geniessens und Schaffens, so musste er fragen und um sich schauen,
ob denn Niemand so denke wie er und sich gleichfalls jene
Incommensurabilität eingestehe. Aber die Vielen und mit ihnen die
besten Einzelnen hatten nur ein misstrauisches Lächeln für ihn;
erklären aber konnte ihm Keiner, warum seinen Bedenken und
Einwendungen gegenüber die grossen Meister doch im Rechte seien. Und
in diesem qualvollen Zustande fand er den anderen Zuschauer, der die
Tragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete. Mit diesem im Bunde
durfte er es wagen, aus seiner Vereinsamung heraus den ungeheuren
Kampf gegen die Kunstwerke des Aeschylus und Sophokles zu beginnen -
nicht mit Streitschriften, sondern als dramatischer Dichter, der seine
Vorstellung von der Tragödie der überlieferten entgegenstellt. -
12.
Bevor wir diesen anderen Zuschauer bei Namen nennen, verharren wir
hier einen Augenblick, um uns jenen früher geschilderten Eindruck
des Zwiespältigen und Incommensurabeln im Wesen der aeschyleischen
Tragödie selbst in's Gedächtniss zurückzurufen. Denken wir an unsere
eigene Befremdung dem Chore und dem tragischen Helden jener Tragödie
gegenüber, die wir beide mit unseren Gewohnheiten ebensowenig wie mit
der Ueberlieferung zu reimen wussten - bis wir jene Doppelheit selbst
als Ursprung und Wesen der griechischen Tragödie wiederfanden, als den
Ausdruck zweier in einander gewobenen Kunsttriebe, des Apollinischen
und des Dionysischen.
Jenes ursprüngliche und allmächtige dionysische Element aus der
Tragödie auszuscheiden und sie rein und neu auf undionysischer Kunst,
Sitte und Weltbetrachtung aufzubauen - dies ist die jetzt in heller
Beleuchtung sich uns enthüllende Tendenz des Euripides.
Euripides selbst hat am Abend seines Lebens die Frage nach dem Werth
und der Bedeutung dieser Tendenz in einem Mythus seinen Zeitgenossen
auf das Nachdrücklichste vorgelegt. Darf überhaupt das Dionysische
bestehn? Ist es nicht mit Gewalt aus dem hellenischen Boden
auszurotten? Gewiss, sagt uns der Dichter, wenn es nur möglich wäre:
aber der Gott Dionysus ist zu mächtig; der verständigste Gegner - wie
Pentheus in den "Bacchen" - wird unvermuthet von ihm bezaubert und
läuft nachher mit dieser Verzauberung in sein Verhängniss. Das Urtheil
der beiden Greise Kadmus und Tiresias scheint auch das Urtheil des
greisen Dichters zu sein: das Nachdenken der klügsten Einzelnen werfe
jene alten Volkstraditionen, jene sich ewig fortpflanzende Verehrung
des Dionysus nicht um, ja es gezieme sich, solchen wunderbaren Kräften
gegenüber, mindestens eine diplomatisch vorsichtige Theilnahme zu
zeigen: wobei es aber immer noch möglich sei, dass der Gott an einer
so lauen Betheiligun; Anstoss nehme und den Diplomaten - wie hier
den Kadmus - schliesslich in einen Drachen verwandle. Dies sagt uns
ein Dichter, der mit heroischer Kraft ein langes Leben hindurch
dem Dionysus widerstanden hat - um am Ende desselben mit einer
Glorification seines Gegners und einem Selbstmorde seine Laufhahn zu
schliessen, einem Schwindelnden gleich, der, um nur dem entsetzlichen,
nicht mehr erträglichen Wirbel zu entgehn, sich vom Thurme
herunterstürzt. Jene Tragödie ist ein Protest gegen die Ausführbarkeit
seiner Tendenz; ach, und sie war bereits ausgeführt! Das Wunderbare
war geschehn: als der Dichter widerrief, hatte bereits seine Tendenz
gesiegt. Dionysus war bereits von der tragischen Bühne verscheucht und
zwar durch eine aus Euripides redende dämonische Macht. Auch Euripides
war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war
nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon,
genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und
das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an
ihm zu Grunde. Mag nun auch Euripides uns durch seinen Widerruf zu
trösten suchen, es gelingt ihm nicht: der herrlichste Tempel liegt
in Trümmern; was nützt uns die Wehklage des Zerstörers und sein
Geständniss, dass es der schönste aller Tempel gewesen sei? Und selbst
dass Euripides zur Strafe von den Kunstrichtern aller Zeiten in
einen Drachen verwandelt worden ist - wen möchte diese erbärmliche
Compensation befriedigen?
Nähern wir uns jetzt jener sokratischen Tendenz, mit der Euripides die
aeschyleische Tragödie bekämpfte und besiegte.
Welches Ziel - so müssen wir uns jetzt fragen - konnte die
euripideische Absicht, das Drama allein auf das Undionysische zu
gründen, in der höchsten Idealität ihrer Durchführung überhaupt haben?
Welche Form des Drama's blieb noch übrig, wenn es nicht aus dem
Geburtsschoosse der Musik, in jenem geheimnissvollen Zwielicht des
Dionysischen geboren werden sollte? Allein das dramatisirte Epos:
in welchem apollinischen Kunstgebiete nun freilich die tragische
Wirkung unerreichbar ist. Es kommt hierbei nicht auf den Inhalt der
dargestellten Ereignisse an; ja ich möchte behaupten, dass es Goethe
in seiner projectirten "Nausikaa" unmöglich gewesen sein würde, den
Selbstmord jenes idyllischen Wesens - der den fünften Act ausfüllen
sollte - tragisch ergreifend zu machen; so ungemein ist die Gewalt des
Episch-Apollinischen, dass es die schreckensvollsten Dinge mit jener
Lust am Scheine und der Erlösung durch den Schein vor unseren Augen
verzaubert. Der Dichter des dramatisirten Epos kann eben so wenig wie
der epische Rhapsode mit seinen Bildern völlig verschmelzen: er ist
immer noch ruhig unbewegte, aus weiten Augen blickende Anschauung, die
die Bilder vorsich sieht. Der Schauspieler in diesem dramatisirten
Epos bleibt im tiefsten Grunde immer noch Rhapsode; die Weihe des
inneren Träumens liegt auf allen seinen Actionen, so dass er niemals
ganz Schauspieler ist.
Wie verhält sich nun diesem Ideal des apollinischen Drama's gegenüber
das euripideische Stück? Wie zu dem feierlichen Rhapsoden der alten
Zeit jener jüngere, der sein Wesen im platonischen "Jon" also
beschreibt: "Wenn ich etwas Trauriges sage, füllen sich meine Augen
mit Thränen; ist aber das, was ich sage, schrecklich und entsetzlich,
dann stehen die Haare meines Hauptes vor Schauder zu Berge, und
mein Herz klopft." Hier merken wir nichts mehr von jenem epischen
Verlorensein im Scheine, von der affectlosen Kühle des wahren
Schauspielers, der gerade in seiner höchsten Thätigkeit, ganz Schein
und Lust am Scheine ist. Euripides ist der Schauspieler mit dem
klopfenden Herzen, mit den zu Berge stehenden Haaren; als sokratischer
Denker entwirft er den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler
führt er ihn aus. Reiner Künstler ist er weder im Entwerfen noch im
Ausführen. So ist das euripideische Drama ein zugleich kühles und
feuriges Ding, zum Erstarren und zum Verbrennen gleich befähigt; es
ist ihm unmöglich, die apollinische Wirkung des Epos zu erreichen,
während es andererseits sich von den dionysischen Elementen möglichst
gelöst hat, und jetzt, um überhaupt zu wirken, neue Erregungsmittel
braucht, die nun nicht mehr innerhalb der beiden einzigen Kunsttriebe,
des apollinischen und des dionysischen, liegen können. Diese
Erregungsmittel sind kühle paradoxe Gedanken - an Stelle der
apollinischen Anschauungen - und feurige Affecte - an Stelle der
dionysischen Entzückungen - und zwar höchst realistisch nachgemachte,
keineswegs in den Aether der Kunst getauchte Gedanken und Affecte.
Haben wir demnach so viel erkannt, dass es Euripides überhaupt nicht
gelungen ist, das Drama allein auf das Apollinische zu gründen, dass
sich vielmehr seine undionysische Tendenz in eine naturalistische
und unkünstlerische verirrt hat, so werden wir jetzt dem Wesen des
aesthetischen Sokratismus schon näher treten dürfen; dessen oberstes
Gesetz ungefähr so lautet: "alles muss verständig sein, um schön zu
sein"; als Parallelsatz zu dem sokratischen "nur der Wissende ist
tugendhaft." Mit diesem Kanon in der Hand maass Euripides alles
Einzelne und rectificirte es gemäss diesem Princip: die Sprache, die
Charaktere, den dramaturgischen Aufbau, die Chormusik. Was wir im
Vergleich mit der sophokleischen Tragödie so häufig dem Euripides als
dichterischen Mangel und Rückschritt anzurechnen pflegen, das ist
zumeist das Product jenes eindringenden kritischen Prozesses, jener
verwegenen Verständigkeit. Der euripideische Prolog diene uns als
Beispiel für die Productivität jener rationalistischen Methode. Nichts
kann unserer Bühnentechnik widerstrebender sein als der Prolog im
Drama des Euripides. Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange
des Stückes erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe, was bis
jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes geschehen werde, das
würde ein moderner Theaterdichter als ein muthwilliges und nicht zu
verzeihendes Verzichtleisten auf den Effect der Spannung bezeichnen.
Man weiss ja alles, was geschehen wird; wer wird abwarten wollen,
dass dies wirklich geschieht? - da ja hier keinesfalls das aufregende
Verhältniss eines wahrsagenden Traumes zu einer später eintretenden
Wirklichkeit stattfindet. Ganz anders reflectirte Euripides. Die
Wirkung der Tragödie beruhte niemals auf der epischen Spannung, auf
der anreizenden Ungewissheit, was sich jetzt und nachher ereignen
werde: vielmehr auf jenen grossen rhetorisch-lyrischen Scenen, in
denen die Leidenschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem
breiten und mächtigen Strome anschwoll. Zum Pathos, nicht zur Handlung
bereitete Alles vor: und was nicht zum Pathos vorbereitete, das galt
als verwerflich. Das aber, was die genussvolle Hingabe an solche
Scenen am stärksten erschwert, ist ein dem Zuhörer fehlendes Glied,
eine Lücke im Gewebe der Vorgeschichte; so lange der Zuhörer noch
ausrechnen muss, was diese und jene Person bedeute, was dieser und
jener Conflict der Neigungen und Absichten für Voraussetzungen habe,
ist seine volle Versenkung in das Leiden und Thun der Hauptpersonen,
ist das athemlose Mitleiden und Mitfürchten noch nicht möglich. Die
aeschyleisch-sophokleische Tragödie verwandte die geistreichsten
Kunstmittel, um dem Zuschauer in den ersten Scenen gewissermaassen
zufällig alle jene zum Verständniss nothwendigen Fäden in die Hand zu
geben: ein Zug, in dem sich jene edle Künstlerschaft bewährt, die das
nothwendige Formelle gleichsam maskirt und als Zufälliges erscheinen
lässt. Immerhin aber glaubte Euripides zu bemerken, dass während
jener ersten Scenen der Zuschauer in eigenthümlicher Unruhe sei,
um das Rechenexempel der Vorgeschichte auszurechnen, so dass die
dichterischen Schönheiten und das Pathos der Exposition für ihn
verloren ginge. Deshalb stellte er den Prolog noch vor die Exposition
und legte ihn einer Person in den Mund, der man Vertrauen schenken
durfte: eine Gottheit musste häufig den Verlauf der Tragödie dem
Publicum gewissermaassen garantieren und jeden Zweifel an der Realität
des Mythus nehmen: in ähnlicher Weise, wie Descartes die Realität
der empirischen Welt nur durch die Appellation an die Wahrhaftigkeit
Gottes und seine Unfähigkeit zur Lüge zu beweisen vermochte. Dieselbe
göttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides noch einmal am Schlusse
seines Drama's, um die Zukunft seiner Helden dem Publicum sicher
zu stellen; dies ist die Aufgabe des berüchtigten deux ex
machina. Zwischen der epischen Vorschau und Hinausschau liegt die
dramatischlyrische Gegenwart, das eigentliche "Drama."
So ist Euripides als Dichter vor allem der Wiederhall seiner bewussten
Erkenntnisse; und gerade dies verleiht ihm eine so denkwürdige
Stellung in der Geschichte der griechischen Kunst.
Ihm muss im Hinblick auf sein kritisch-productives Schaffen oft zu
Muthe gewesen sein als sollte er den Anfang der Schrift des Anaxagoras
für das Drama lebendig machen, deren erste Worte lauten: "im Anfang
war alles beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung." Und wenn
Anaxagoras mit seinem "Nous" unter den Philosophen wie der erste
Nüchterne unter lauter Trunkenen erschien, so mag auch Euripides sein
Verhältniss zu den anderen Dichtern der Tragödie unter einem ähnlichen
Bilde begriffen haben. So lange der einzige Ordner und Walter des
Alls, der Nous, noch vom künstlerischen Schaffen ausgeschlossen war,
war noch alles in einem chaotischen Urbrei beisammen; so musste
Euripides urtheilen, so musste er die "trunkenen" Dichter als der
erste "Nüchterne" verurtheilen. Das, was Sophokles von Aeschylus
gesagt hat, er thue das Rechte, obschon unbewusst, war gewiss nicht im
Sinne des Euripides gesagt: der nur so viel hätte gelten lassen, dass
Aeschylus, weil er unbewusst schaffe, das Unrechte schaffe. Auch
der göttliche Plato redet vom schöpferischen Vermögen des Dichters,
insofern dies nicht die bewusste Einsicht ist, zu allermeist nur
ironisch und stellt es der Begabung des Wahrsagers und Traumdeuters
gleich; sei doch der Dichter nicht eher fähig zu dichten als bis
er bewusstlos geworden sei, und kein Verstand mehr in ihm wohne.
Euripides unternahm es, wie es auch Plato unternommen hat, das
Gegenstück des "unverständigen" Dichters der Welt zu zeigen; sein
aesthetischer Grundsatz "alles muss bewusst sein, um schön zu sein",
ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem sokratischen "alles muss
bewusst sein, um gut zu sein". Demgemäss darf uns Euripides als der
Dichter des aesthetischen Sokratismus gelten. Sokrates aber war jener
zweite Zuschauer, der die ältere Tragödie nicht begriff und deshalb
nicht achtete; mit ihm im Bunde wagte Euripides, der Herold eines
neuen Kunstschaffens zu sein. Wenn an diesem die ältere Tragödie zu
Grunde ging, so ist also der aesthetische Sokratismus das mörderische
Princip: insofern aber der Kampf gegen das Dionysische der älteren
Kunst gerichtet war, erkennen wir in Sokrates den Gegner des Dionysus,
den neuen Orpheus, der sich gegen Dionysus erhebt und, obschon
bestimmt, von den Mänaden des athenischen Gerichtshofes zerrissen
zu werden, doch den übermächtigen Gott selbst zur Flucht nöthigt:
welcher, wie damals, als er vor dem Edonerkönig Lykurg floh, sich in
die Tiefen des Meeres rettete, nämlich in die mystischen Fluthen eines
die ganze Welt allmählich überziehenden Geheimcultus.
13.
Dass Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zu Euripides habe,
entging dem gleichzeitigen Alterthume nicht; und der beredteste
Ausdruck für diesen glücklichen Spürsinn ist jene in Athen umlaufende
Sage, Sokrates pflege dem Euripides im Dichten zu helfen. Beide
Namen wurden von den Anhängern der "guten alten Zeit" in einem Athem
genannt, wenn es galt, die Volksverführer der Gegenwart aufzuzählen:
von deren Einflusse es herrühre, dass die alte marathonische
vierschrötige Tüchtigkeit an Leib und Seele immer mehr einer
zweifelhaften Aufklärung, bei fortschreitender Verkümmerung der
leiblichen und seelischen Kräfte, zum Opfer falle. In dieser Tonart,
halb mit Entrüstung, halb mit Verachtung, pflegt die aristophanische
Komödie von jenen Männern zu reden, zum Schrecken der Neueren, welche
zwar Euripides gerne preisgeben, aber sich nicht genug darüber
wundern können, dass Sokrates als der erste und oberste Sophist,
als der Spiegel und Inbegriff aller sophistischen Bestrebungen bei
Aristophanes erscheine: wobei es einzig einen Trost gewährt, den
Aristophanes selbst als einen lüderlich lügenhaften Alcibiades der
Poesie an den Pranger zu stellen. Ohne an dieser Stelle die tiefen
Instincte des Aristophanes gegen solche Angriffe in Schutz zu nehmen,
fahre ich fort, die enge Zusammengehörigkeit des Sokrates und des
Euripides aus der antiken Empfindung heraus zu erweisen; in welchem
Sinne namentlich daran zu erinnern ist, dass Sokrates als Gegner der
tragischen Kunst sich des Besuchs der Tragödie enthielt, und nur,
wenn ein neues Stück des Euripides aufgeführt wurde, sich unter
den Zuschauern einstellte. Am berühmtesten ist aber die nahe
Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakelspruche,
welcher Sokrates als den Weisesten unter den Menschen bezeichnet,
zugleich aber das Urtheil abgab, dass dem Euripides der zweite Preis
im Wettkampfe der Weisheit gebühre.
Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophokles genannt; er, der
sich gegen Aeschylus rühmen durfte, er thue das Rechte und zwar,
weil er wisse, was das Rechte sei. Offenbar ist gerade der Grad der
Helligkeit dieses Wissens dasjenige, was jene drei Männer gemeinsam
als die drei "Wissenden" ihrer Zeit auszeichnet.
Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörte Hochschätzung des
Wissens und der Einsicht sprach Sokrates, als er sich als den Einzigen
vorfand, der sich eingestehe, nichts zu wissen; während er, auf seiner
kritischen Wanderung durch Athen, bei den grössten Staatsmännern,
Rednern, Dichtern und Künstlern vorsprechend, überall die Einbildung
des Wissens antraf. Mit Staunen erkannte er, dass alle jene
Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtige und sichere
Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben. "Nur aus
Instinct": mit diesem Ausdruck berühren wir Herz und Mittelpunkt der
sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus eben so die
bestehende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er seine prüfenden
Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht des
Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit
und Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von diesem einen Punkte aus
glaubte Sokrates das Dasein corrigieren zu müssen: er, der Einzelne,
tritt mit der Miene der Nichtachtung und der Ueberlegenheit, als der
Vorläufer einer ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in
eine Welt hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum
grössten Glücke rechnen würden.
Dies ist die ungeheuere Bedenklichkeit, die uns jedesmal, Angesichts
des Sokrates, ergreift und die uns immer und immer wieder anreizt,
Sinn und Absicht dieser fragwürdigsten Erscheinung des Alterthums
zu erkennen. Wer ist das, der es wagen darf, als ein Einzelner das
griechische Wesen zu verneinen, das als Homer, Pindar und Aeschylus,
als Phidias, als Perikles, als Pythia und Dionysus, als der tiefste
Abgrund und die höchste Höhe unserer staunenden Anbetung gewiss ist?
Welche dämonische Kraft ist es, die diesen Zaubertrank in den Staub
zu schütten sich erkühnen darf? Welcher Halbgott ist es, dem der
Geisterchor der Edelsten der Menschheit zurufen muss: "Weh! Weh! Du
hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust; sie stürzt,
sie zerfällt!"
Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietet uns jene wunderbare
Erscheinung, die als "Dämonion des Sokrates" bezeichnet wird. In
besonderen Lagen, in denen sein ungeheurer Verstand in's Schwanken
gerieth, gewann er einen festen Anhalt durch eine in solchen Momenten
sich äussernde göttliche Stimme. Diese Stimme mahnt, wenn sie kommt,
immer ab. Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich
abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da hindernd
entgegenzutreten. Während doch bei allen productiven Menschen der
Instinct gerade die schöpferisch-affirmative Kraft ist, und das
Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates
der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer - eine wahre
Monstrosität per defectum! Und zwar nehmen wir hier einen monstrosen
defectus jeder mystischen Anlage wahr, so dass Sokrates als der
specifische Nicht-Mystiker zu bezeichnen wäre, in dem die logische
Natur durch eine Superfötation eben so excessiv entwickelt ist wie im
Mystiker jene instinctive Weisheit. Andrerseits aber war es jenem in
Sokrates erscheinenden logischen Triebe völlig versagt, sich gegen
sich selbst zu kehren; in diesem fessellosen Dahinströmen zeigt er
eine Naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergrössten instinctiven
Kräften zu unsrer schaudervollen Ueberraschung antreffen. Wer
nur einen Hauch von jener göttlichen Naivetät und Sicherheit der
sokratischen Lebensrichtung aus den platonischen Schriften gespürt
hat, der fühlt auch, wie das ungeheure Triebrad des logischen
Sokratismus gleichsam hinter Sokrates in Bewegung ist, und wie dies
durch Sokrates wie durch einen Schatten hindurch angeschaut werden
muss. Dass er aber selbst von diesem Verhältniss eine Ahnung hatte,
das drückt sich in dem würdevollen Ernste aus, mit dem er seine
göttliche Berufung überall und noch vor seinen Richtern geltend
machte. Ihn darin zu widerlegen war im Grunde eben so unmöglich als
seinen die Instincte auflösenden Einfluss gut zu heissen. Bei diesem
unlösbaren Conflicte war, als er einmal vor das Forum des griechischen
Staates gezogen war, nur eine einzige Form der Verurtheilung geboten,
die Verbannung; als etwas durchaus Räthselhaftes, Unrubricirbares,
Unaufklärbares hätte man ihn über die Grenze weisen dürfen, ohne
dass irgend eine Nachwelt im Recht gewesen wäre, die Athener einer
schmählichen That zu zeihen. Dass aber der Tod und nicht nur die
Verbannung über ihn ausgesprochen wurde, das scheint Sokrates selbst,
mit völliger Klarheit und ohne den natürlichen Schauder vor dem Tode,
durchgesetzt zu haben: er ging in den Tod, mit jener Ruhe, mit der
er nach Plato's Schilderung als der letzte der Zecher im frühen
Tagesgrauen das Symposion verlässt, um einen neuen Tag zu beginnen;
indess hinter ihm, auf den Bänken und auf der Erde, die verschlafenen
Tischgenossen zurückbleiben, um von Sokrates, dem wahrhaften Erotiker,
zu träumen. Der sterbende Sokrates wurde das neue, noch nie sonst
geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend: vor allen hat sich der
typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrünstigen Hingebung
seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde niedergeworfen.
14.
Denken wir uns jetzt das eine grosse Cyklopenauge des Sokrates auf
die Tragödie gewandt, jenes Auge, in dem nie der holde Wahnsinn
künstlerischer Begeisterung geglüht hat - denken wir uns, wie es
jenem Auge versagt war, in die dionysischen Abgründe mit Wohlgefallen
zu schauen - was eigentlich musste es in der "erhabenen und
hochgepriesenen" tragischen Kunst, wie sie Plato nennt, erblicken?
Etwas recht Unvernünftiges, mit Ursachen, die ohne Wirkungen, und mit
Wirkungen, die ohne Ursachen zu sein schienen, dazu das Ganze so bunt
und mannichfaltig, dass es einer besonnenen Gemüthsart widerstreben
müsse, für reizbare und empfindliche Seelen aber ein gefährlicher
Zunder sei. Wir wissen, welche einzige Gattung der Dichtkunst von ihm
begriffen wurde, die aesopische Fabel: und dies geschah gewiss mit
jener lächelnden Anbequemung, mit welcher der ehrliche gute Gellert in
der Fabel von der Biene und der Henne das Lob der Poesie singt:
"Du siehst an mir, wozu sie nützt,
Dem, der nicht viel Verstand besitzt
Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen".
Nun aber schien Sokrates die tragische Kunst nicht einmal "die
Wahrheit zu sagen": abgesehen davon, dass sie sich an den wendet, der
"nicht viel Verstand besitzt", also nicht an den Philosophen: ein
zweifacher Grund, von ihr fern zu bleiben. Wie Plato, rechnete er
sie zu den schmeichlerischen Künsten, die nur das Angenehme, nicht
das Nützliche darstellen und verlangte deshalb bei seinen Jüngern
Enthaltsamkeit und strenge Absonderung von solchen unphilosophischen
Reizungen; mit solchem Erfolge, dass der jugendliche Tragödiendichter
Plato zu allererst seine Dichtungen verbrannte, um Schüler des
Sokrates werden zu können. Wo aber unbesiegbare Anlagen gegen die
sokratischen Maximen ankämpften, war die Kraft derselben, sammt der
Wucht jenes ungeheuren Charakters, immer noch gross genug, um die
Poesie selbst in neue und bis dahin unbekannte Stellungen zu drängen.
Ein Beispiel dafür ist der eben genannte Plato: er, der in der
Verurtheilung der Tragödie und der Kunst überhaupt gewiss nicht hinter
dem naiven Cynismus seines Meisters zurückgeblieben ist, hat doch aus
voller künstlerischer Nothwendigkeit eine Kunstform schaffen müssen,
die gerade mit den vorhandenen und von ihm abgewiesenen Kunstformen
innerlich verwandt ist. Der Hauptvorwurf, den Plato der älteren Kunst
zu machen hatte, - dass sie Nachahmung eines Scheinbildes sei, also
noch einer niedrigeren Sphäre als die empirische Welt ist, angehöre
- durfte vor allem nicht gegen das neue Kunstwerk gerichtet werden:
und so sehen wir denn Plato bestrebt über die Wirklichkeit hinaus
zu gehn und die jener Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegende Idee
darzustellen. Damit aber war der Denker Plato auf einem Umwege
ebendahin gelangt, wo er als Dichter stets heimisch gewesen war und
von wo aus Sophokles und die ganze ältere Kunst feierlich gegen jenen
Vorwurf protestirten. Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen
in sich aufgesaugt hatte, so darf dasselbe wiederum in einem
excentrischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch
Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwischen
Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte
schwebt und damit auch das strenge ältere Gesetz der einheitlichen
sprachlichen Form durchbrochen hat; auf welchem Wege die cynischen
Schriftsteller noch weiter gegangen sind, die in der grössten
Buntscheckigkeit des Stils, im Hin- und Herschwanken zwischen
prosaischen und metrischen Formen auch das litterarische Bild des
"rasenden Sokrates", den sie im Leben darzustellen pflegten, erreicht
haben. Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn, auf dem sich die
schiffbrüchige ältere Poesie sammt allen ihren Kindern rettete: auf
einen engen Raum zusammengedrängt und dem einen Steuermann Sokrates
ängstlich unterthänig fuhren sie jetzt in eine neue Welt hinein, die
an dem phantastischen Bilde dieses Aufzugs sich nie satt sehen konnte.
Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen
Kunstform gegeben, das Vorbild des Roman's: der als die unendlich
gesteigerte aesopische Fabel zu bezeichnen ist, in der die Poesie in
einer ähnlichen Rangordnung zur dialektischen Philosophie lebt, wie
viele Jahrhunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theologie:
nämlich als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die sie
Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte.
Hier überwächst der philosophische Gedanke die Kunst und zwingt sie
zu einem engen Sich- Anklammern an den Stamm der Dialektik. In dem
logischen Schematismus hat sich die apollinische Tendenz verpuppt: wie
wir bei Euripides etwas Entsprechendes und ausserdem eine Uebersetzung
des Dionysischen in den naturalistischen Affect wahrzunehmen hatten.
Sokrates, der dialektische Held im platonischen Drama, erinnert uns
an die verwandte Natur des euripideischen Helden, der durch Grund
und Gegengrund seine Handlungen vertheidigen muss und dadurch so
oft in Gefahr geräth, unser tragisches Mitleiden einzubüssen: denn
wer vermöchte das optimistische Element im Wesen der Dialektik zu
verkennen, das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in
kühler Helle und Bewusstheit athmen kann: das optimistische Element,
das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre dionysischen Regionen
allmählich überwuchern und sie nothwendig zur Selbstvernichtung
treiben muss - bis zum Todessprunge in's bürgerliche Schauspiel. Man
vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze:
"Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der
Tugendhafte ist der Glückliche": in diesen drei Grundformen des
Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt muss der tugendhafte
Held Dialektiker sein, jetzt muss zwischen Tugend und Wissen, Glaube
und Moral ein nothwendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die
transscendentale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und
frechen Princip der "poetischen Gerechtigkeit" mit seinem üblichen
deus ex machina erniedrigt.
Wie erscheint dieser neuen sokratisch-optimistischen
Bühnenwelt gegenüber jetzt der Chor und überhaupt der ganze
musikalisch-dionysische Untergrund der Tragödie? Als etwas Zufälliges,
als eine auch wohl zu missende Reminiscenz an den Ursprung der
Tragödie; während wir doch eingesehen haben, dass der Chor nur als
Ursache der Tragödie und des Tragischen überhaupt verstanden werden
kann. Schon bei Sophokles zeigt sich jene Verlegenheit in Betreff des
Chors - ein wichtiges Zeichen, dass schon bei ihm der dionysische
Boden der Tragödie zu zerbröckeln beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem
Chor den Hauptantheil der Wirkung anzuvertrauen, sondern schränkt
sein Bereich dermaassen ein, dass er jetzt fast den Schauspielern
coordinirt erscheint, gleich als ob er aus der Orchestra in die
Scene hineingehoben würde: womit freilich sein Wesen völlig zerstört
ist, mag auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chors seine
Beistimmung geben. Jene Verrückung der Chorposition, welche Sophokles
jedenfalls durch seine Praxis und, der Ueberlieferung nach, sogar
durch eine Schrift anempfohlen hat, ist der erste Schritt zur
Vernichtung des Chors, deren Phasen in Euripides, Agathon und der
neueren Komödie mit erschreckender Schnelligkeit auf einander folgen.
Die optimistische Dialektik treibt mit der Geissel ihrer Syllogismen
die Musik aus der Tragödie: d.h. sie zerstört das Wesen der Tragödie,
welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung
dionysischer Zustände, als sichtbare Symbolisirung der Musik, als die
Traumwelt eines dionysischen Rausches interpretiren lässt.
Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische
Tendenz anzunehmen, die nur in ihm einen unerhört grossartigen
Ausdruck gewinnt: so müssen wir nicht vor der Frage zurückschrecken,
wohin denn eine solche Erscheinung wie die des Sokrates deute: die wir
doch nicht im Stande sind, Angesichts der platonischen Dialoge, als
eine nur auflösende negative Macht zu begreifen. Und so gewiss die
allernächste Wirkung des sokratischen Triebes auf eine Zersetzung
der dionysischen Tragödie ausging, so zwingt uns eine tiefsinnige
Lebenserfahrung des Sokrates selbst zu der Frage, ob denn zwischen dem
Sokratismus und der Kunst nothwendig nur ein antipodisches Verhältniss
bestehe und ob die Geburt eines "künstlerischen Sokrates" überhaupt
etwas in sich Widerspruchsvolles sei.
Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da der Kunst
gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines halben Vorwurfs,
einer vielleicht versäumten Pflicht. Oefters kam ihm, wie er im
Gefängniss seinen Freunden erzählt, ein und dieselbe Traumerscheinung,
die immer dasselbe sagte: "Sokrates, treibe Musik!" Er beruhigt sich
bis zu seinen letzten Tagen mit der Meinung, sein Philosophieren sei
die höchste Musenkunst, und glaubt nicht recht, dass eine Gottheit
ihn an jene "gemeine, populäre Musik" erinnern werde. Endlich im
Gefängniss versteht er sich, um sein Gewissen gänzlich zu entlasten,
auch dazu, jene von ihm gering geachtete Musik zu treiben. Und in
dieser Gesinnung dichtet er ein Proömium auf Apollo und bringt einige
aesopische Fabeln in Verse. Das war etwas der dämonischen warnenden
Stimme Aehnliches, was ihn zu diesen Uebungen drängte, es war seine
apollinische Einsicht, dass er wie ein Barbarenkönig ein edles
Götterbild nicht verstehe und in der Gefahr sei, sich an einer
Gottheit zu versündigen - durch sein Nichtsverstehn. Jenes Wort
der sokratischen Traumerscheinung ist das einzige Zeichen einer
Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur: vielleicht - so
musste er sich fragen - ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch
sofort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit,
aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein
nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft?
15.
Im Sinne dieser letzten ahnungsvollen Fragen muss nun ausgesprochen
werden, wie der Einfluss des Sokrates, bis auf diesen Moment hin, ja
in alle Zukunft hinaus, sich, gleich einem in der Abendsonne immer
grösser werdenden Schatten, über die Nachwelt hin ausgebreitet hat,
wie derselbe zur Neuschaffung der Kunst - und zwar der Kunst im
bereits metaphysischen, weitesten und tiefsten Sinne - immer wieder
nöthigt und, bei seiner eignen Unendlichkeit, auch deren Unendlichkeit
verbürgt.
Bevor dies erkannt werden konnte, bevor die innerste Abhängigkeit
jeder Kunst von den Griechen, den Griechen von Homer bis auf Sokrates,
überzeugend dargethan war, musste es uns mit diesen Griechen ergehen
wie den Athenern mit Sokrates. Fast jede Zeit und Bildungsstufe hat
einmal sich mit tiefem Missmuthe von den Griechen zu befreien gesucht,
weil Angesichts derselben alles Selbstgeleistete, scheinbar völlig
Originelle, und recht aufrichtig Bewunderte plötzlich Farbe und Leben
zu verlieren schien und zur misslungenen Copie, ja zur Caricatur
zusammenschrumpfte. Und so bricht immer von Neuem einmal der herzliche
Ingrimm gegen jenes anmaassliche Völkchen hervor das sich erkühnte,
alles Nichteinheimische für alle Zeiten als "barbarisch" zu
bezeichnen: wer sind jene, fragt man sich, die, obschon sie nur
einen ephemeren historischen Glanz, nur lächerlich engbegrenzte
Institutionen, nur eine zweifelhafte Tüchtigkeit der Sitte aufzuweisen
haben und sogar mit hässlichen Lastern gekennzeichnet sind, doch die
Würde und Sonderstellung unter den Völkern in Anspruch nehmen, die
dem Genius unter der Masse zukommt? Leider war man nicht so glücklich
den Schierlingsbecher zu finden, mit dem ein solches Wesen einfach
abgethan werden konnte: denn alles Gift, das Neid, Verläumdung und
Ingrimm in sich erzeugten, reichte nicht hin, jene selbstgenugsame
Herrlichkeit zu vernichten. Und so schämt und fürchtet man sich vor
den Griechen; es sei denn, dass Einer die Wahrheit über alles achte
und so sich auch diese Wahrheit einzugestehn wage, dass die Griechen
unsere und jegliche Cultur als Wagenlenker in den Händen haben, dass
aber fase immer Wagen und Pferde von zu geringem Stoffe und der Glorie
ihrer Führer unangemessen sind, die dann es für einen Scherz erachten,
ein solches Gespann in den Abgrund zu jagen: über den sie selbst, mit
dem Sprunge des Achilles, hinwegsetzen.
Um die Würde einer solchen Führerstellung auch für Sokrates zu
erweisen, genügt es in ihm den Typus einer vor ihm unerhörten
Daseinsform zu erkennen, den Typus des theoretischen Menschen, über
dessen Bedeutung und Ziel zur Einsicht zu kommen, unsere nächste
Aufgabe ist. Auch der theoretische Mensch hat ein unendliches
Genügen am Vorhandenen, wie der Künstler, und ist wie jener vor der
praktischen Ethik des Pessimismus und vor seinen nur im Finsteren
leuchtenden Lynkeusaugen, durch jenes Genügen geschützt. Wenn
nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit
verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der
Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der
theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes
Lustziel in dem Prozess einer immer glücklichen, durch eigene Kraft
gelingenden Enthüllung. Es gäbe keine Wissenschaft, wenn ihr nur um
jene eine nackte Göttin und um nichts Anderes zu thun wäre. Denn dann
müsste es ihren Jüngern zu Muthe sein, wie Solchen, die ein Loch
gerade durch die Erde graben wollten: von denen ein Jeder einsieht,
dass er, bei grösster und lebenslänglicher Anstrengung, nur ein ganz
kleines Stück der ungeheuren Tiefe zu durchgraben im Stande sei,
welches vor seinen Augen durch die Arbeit des Nächsten wieder
überschüttet wird, so dass ein Dritter wohl daran zu thun scheint,
wenn er auf eigne Faust eine neue Stelle für seine Bohrversuche
wählt. Wenn jetzt nun Einer zur Ueberzeugung beweist, dass auf diesem
directen Wege das Antipodenziel nicht zu erreichen sei, wer wird
noch in den alten Tiefen weiterarbeiten wollen, es sei denn, dass er
sich nicht inzwischen genügen lasse, edles Gestein zu finden oder
Naturgesetze zu entdecken. Darum hat Lessing, der ehrlichste
theoretische Mensch, es auszusprechen gewagt, dass ihm mehr am Suchen
der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei: womit das Grundgeheimniss
der Wissenschaft, zum Erstaunen, ja Aerger der Wissenschaftlichen,
aufgedeckt worden ist. Nun steht freilich neben dieser vereinzelten
Erkenntniss, als einem Excess der Ehrlichkeit, wenn nicht des
Uebermuthes, eine tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der
Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube,
dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten
Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu
erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei. Dieser erhabene
metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und
führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie
in Kunst umschlagen muss: auf welchees eigentlich, bei diesem
Mechanismus, abgesehn ist.
Schauen wir jetzt, mit der Fackel dieses Gedankens, auf Sokrates hin:
so erscheint er uns als der Erste, der an der Hand jenes Instinctes
der Wissenschaft nicht nur leben, sondern - was bei weitem mehr ist -
auch sterben konnte: und deshalb ist das Bild des sterbenden Sokrates
als des durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen
das Wappenschild, das über dem Eingangsthor der Wissenschaft einen
Jeden an deren Bestimmung erinnert, nämlich das Dasein als begreiflich
und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen: wozu freilich
wenn die Gründe nicht reichen, schliesslich auch der Mythus dienen
muss, den ich sogar als nothwendige Consequenz, ja als Absicht der
Wissenschaft soeben bezeichnete.
Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach Sokrates, dem Mystagogen
der Wissenschaft, eine Philosophenschule nach der anderen, wie Welle
auf Welle, sich ablöst, wie eine nie geahnte Universalität der
Wissensgier in dem weitesten Bereich der gebildeten Welt und als
eigentliche Aufgabe für jeden höher Befähigten die Wissenschaft
auf die hohe See führte, von der sie niemals seitdem wieder völlig
vertrieben werden konnte, wie durch diese Universalität erst ein
gemeinsames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, ja mit
Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnensystems, gespannt
wurde; wer dies Alles, sammt der erstaunlich hohen Wissenspyramide
der Gegenwart, sich vergegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen,
in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten
Weltgeschichte zu sehen. Denn dächte man sich einmal diese ganze
unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welttendenz verbraucht
worden ist, nicht im Dienste des Erkennens, sondern auf die
praktischen d.h. egoistischen Ziele der Individuen und Völker
verwendet, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfen
und fortdauernden Völkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so
abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne
vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste, wenn
er, wie der Bewohner der Fidschiinseln, als Sohn seine Eltern, als
Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer Pessimismus, der
selbst eine grausenhafte Ethik des Völkermordes aus Mitleid erzeugen
könnte - der übrigens überall in der Welt vorhanden ist und vorhanden
war, wo nicht die Kunst in irgend welchen Formen, besonders als
Religion und Wissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes
Pesthauchs erschienen ist.
Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist Sokrates das Urbild
des theoretischen Optimisten, der in dem bezeichneten Glauben an die
Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntniss die
Kraft einer Universalmedizin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich
begreift. In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntniss vom
Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen Menschen
der edelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche Beruf zu sein: so
wie jener Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse von Sokrates
ab als höchste Bethätigung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur
über alle anderen Fähigkeiten geschätzt wurde. Selbst die erhabensten
sittlichen Thaten, die Regungen des Mitleids, der Aufopferung, des
Heroismus und jene schwer zu erringende Meeresstille der Seele, die
der apollinische Grieche Sophrosyne nannte, wurden von Sokrates und
seinen gleichgesinnten Nachfolgern bis auf die Gegenwart hin aus der
Dialektik des Wissens abgeleitet und demgemäss als lehrbar bezeichnet.
Wer die Lust einer sokratischen Erkenntniss an sich erfahren hat
und spürt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die ganze Welt der
Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird von da an keinen Stachel,
der zum Dasein drängen könnte, heftiger empfinden als die Begierde,
jene Eroberung zu vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu
spinnen. Einem so Gestimmten erscheint dann der platonische Sokrates
als der Lehrer einer ganz neuen Form der "griechischen Heiterkeit"
und Daseinsseligkeit, welche sich in Handlungen zu entladen sucht und
diese Entladung zumeist in maeeutischen und erziehenden Einwirkungen
auf edle Jünglinge, zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius,
finden wird.
Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt,
unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik
verborgener Optimismus scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der
Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht
abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte,
so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines
Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie,
wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken
sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt
und endlich sich in den Schwanz beisst - da bricht die neue Form der
Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die, um nur ertragen zu
werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.
Schauen wir, mit gestärkten und an den Griechen erlabten Augen, auf
die höchsten Sphären derjenigen Welt, die uns umfluthet, so gewahren
wir die in Sokrates vorbildlich erscheinende Gier der unersättlichen
optimistischen Erkenntniss in tragische Resignation und
Kunstbedürftigkeit umgeschlagen: während allerdings dieselbe Gier, auf
ihren niederen Stufen, sich kunstfeindlich äussern und vornehmlich die
dionysisch-tragische Kunst innerlich verabscheuen muss, wie dies an
der Bekämpfung der aeschyleischen Tragödie durch den Sokratismus
beispielsweise dargestellt wurde.
Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pforten der Gegenwart
und Zukunft: wird jenes "Umschlagen" zu immer neuen Configurationen
des Genius und gerade des musiktreibenden Sokrates führen? Wird das
über das Dasein gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen
der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter geflochten
werden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischen Treiben
und Wirbeln, das sich jetzt "die Gegenwart" nennt, in Fetzen zu
reissen? - Besorgt, doch nicht trostlos stehen wir eine kleine Weile
bei Seite, als die Beschaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugen jener
ungeheuren Kämpfe und Uebergänge zu sein. Ach! Es ist der Zauber
dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss!
16.
An diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir klar zu machen
gesucht, wie die Tragödie an dem Entschwinden des Geistes der Musik
eben so gewiss zu Grunde geht, wie sie aus diesem Geiste allein
geboren werden kann. Das Ungewöhnliche dieser Behauptung zu mildern
und andererseits den Ursprung dieser unserer Erkenntniss aufzuzeigen,
müssen wir uns jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen der
Gegenwart gegenüber stellen; wir müssen mitten hinein in jene Kämpfe
treten, welche, wie ich eben sagte, zwischen der unersättlichen
optimistischen Erkenntniss und der tragischen Kunstbedürftigkeit in
den höchsten Sphären unserer jetzigen Welt gekämpft werden. Ich will
hierbei von allen den anderen gegnerischen Trieben absehn, die zu
jeder Zeit der Kunst und gerade der Tragödie entgegenarbeiten und die
auch in der Gegenwart in dem Maasse siegesgewiss um sich greifen, dass
von den theatralischen Künsten z.B. allein die Posse und das Ballet
in einem einigermaassen üppigen Wuchern ihre vielleicht nicht für
Jedermann wohlriechenden Blüthen treiben. Ich will nur von der
erlauchtesten Gegnerschaft der tragischen Weltbetrachtung reden und
meine damit die in ihrem tiefsten Wesen optimistische Wissenschaft,
mit ihrem Ahnherrn Sokrates an der Spitze. Alsbald sollen auch die
Mächte bei Namen genannt werden, welche mir eine Wiedergeburt der
Tragödie - und welche andere selige Hoffnungen für das deutsche Wesen!
- zu verbürgen scheinen.
Bevor wir uns mitten in jene Kämpfe hineinstürzen, hüllen wir uns in
die Rüstung unsrer bisher eroberten Erkenntnisse. Im Gegensatz zu
allen denen, welche beflissen sind, die Künste aus einem einzigen
Princip, als dem nothwendigen Lebensquell jedes Kunstwerks abzuleiten,
halte ich den Blick auf jene beiden künstlerischen Gottheiten
der Griechen, Apollo und Dionysus, geheftet und erkenne in ihnen
die lebendigen und anschaulichen Repräsentanten zweier in ihrem
tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten.
Apollo steht vor mir, als der verklärende Genius des principii
individuationis, durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu
erlangen ist: während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der
Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern
des Sein's, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt. Dieser
ungeheuere Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst als
der apollinischen und der Musik als der dionysischen Kunst klaffend
aufthut, ist einem Einzigen der grossen Denker in dem Maasse offenbar
geworden, dass er, selbst ohne jene Anleitung der hellenischen
Göttersymbolik, der Musik einen verschiedenen Charakter und Ursprung
vor allen anderen Künsten zuerkannte, weil sie nicht, wie jene alle,
Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst
sei und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller
Erscheinung das Ding an sich darstelle. (Schopenhauer, Welt als Wille
und Vorstellung I, p. 310). Auf diese wichtigste Erkenntniss aller
Aesthetik, mit der, in einem ernstern Sinne genommen, die Aesthetik
erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen
Wahrheit, seinen Stempel gedrückt, wenn er im "Beethoven" feststellt,
dass die Musik nach ganz anderen aesthetischen Principien als alle
bildenden Künste und überhaupt nicht nach der Kategorie der Schönheit
zu bemessen sei: obgleich eine irrige Aesthetik, an der Hand einer
missleiteten und entarteten Kunst, von jenem in der bildnerischen Welt
geltenden Begriff der Schönheit aus sich gewöhnt habe, von der Musik
eine ähnliche Wirkung wie von den Werken der bildenden Kunst zu
fordern, nämlich die Erregung des Gefallens an schönen Formen. Nach
der Erkenntniss jenes ungeheuren Gegensatzes fühlte ich eine starke
Nöthigung, mich dem Wesen der griechischen Tragödie und damit der
tiefsten Offenbarung des hellenischen Genius zu nahen: denn erst jetzt
glaubte ich des Zaubers mächtig zu sein, über die Phraseologie unserer
üblichen Aesthetik hinaus, das Urproblem der Tragödie mir leibhaft
vor die Seele stellen zu können: wodurch mir ein so befremdlich
eigenthümlicher Blick in das Hellenische vergönnt war, dass
es mir scheinen musste, als ob unsre so stolz sich gebärdende
classisch-hellenische Wissenschaft in der Hauptsache bis jetzt nur an
Schattenspielen und Aeusserlichkeiten sich zu weiden gewusst habe.
Jenes Urproblem möchten wir vielleicht mit dieser Frage berühren:
welche aesthetische Wirkung entsteht, wenn jene an sich getrennten
Kunstmächte des Apollinischen und des Dionysischen neben einander
in Thätigkeit gerathen? Oder in kürzerer Form: wie verhält sich
die Musik zu Bild und Begriff? - Schopenhauer, dem Richard Wagner
gerade für diesen Punkt eine nicht zu überbietende Deutlichkeit und
Durchsichtigkeit der Darstellung nachrühmt, äussert sich hierüber am
ausführlichsten in der folgenden Stelle, die ich hier in ihrer ganzen
Länge wiedergeben werde. Welt als Wille und Vorstellung I, p. 309:
"Diesem allen zufolge können wir die erscheinende Welt, oder die
Natur, und die Musik als zwei verschiedene Ausdrücke derselben Sache
ansehen, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Analogie
beider ist, dessen Erkenntniss erfordert wird, um jene Analogie
einzusehen. Die Musik ist demnach, wenn als Ausdruck der Welt
angesehen eine im höchsten Grad allgemeine Sprache, die sich sogar
zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu den
einzelnen Dingen. Ihre Allgemeinheit ist aber keineswegs jene leere
Allgemeinheit der Abstraction, sondern ganz anderer Art und ist
verbunden mit durchgängiger deutlicher Bestimmtheit. Sie gleicht
hierin den geometrischen Figuren und den Zahlen, welche als die
allgemeinen Formen aller möglichen Objecte der Erfahrung und auf alle
a priori anwendbar, doch nicht abstract, sondern anschaulich und
durchgängig bestimmt sind. Alle möglichen Bestrebungen, Erregungen und
Aeusserungen des Willens, alle jene Vorgänge im Innern des Menschen,
welche die Vernunft in den weiten negativen Begriff Gefühl wirft, sind
durch die unendlich vielen möglichen Melodien auszudrücken, aber immer
in der Allgemeinheit blosser Form, ohne den Stoff, immer nur nach
dem Ansich, nicht nach der Erscheinung, gleichsam die innerste Seele
derselben, ohne Körper. Aus diesem innigen Verhältniss, welches die
Musik zum wahren Wesen aller Dinge hat, ist auch dies zu erklären,
dass, wenn zu irgend einer Scene, Handlung, Vorgang, Umgebung, eine
passende Musik ertönt, diese uns den geheimsten Sinn derselben
aufzuschliessen scheint und als der richtigste und deutlichste
Commentar dazu auftritt; imgleichen, dass es Dem, der sich dem
Eindruck einer Symphonie ganz hingiebt, ist, als sähe er alle
möglichen Vorgänge des Lebens und der Welt an sich vorüberziehen:
dennoch kann er, wenn er sich besinnt, keine Aehnlichkeit angeben
zwischen jenem Tonspiel und den Dingen, die ihm vorschwebten. Denn die
Musik ist, wie gesagt, darin von allen anderen Künsten verschieden,
dass sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten
Objectität des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst
ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller
Erscheinung das Ding an sich darstellt. Man könnte demnach die Welt
ebensowohl verkörperte Musik, als verkörperten Willen nennen: daraus
also ist es erklärlich, warum Musik jedes Gemälde, ja jede Scene des
wirklichen Lebens und der Welt, sogleich in erhöhter Bedeutsamkeit
hervortreten lässt; freilich um so mehr, je analoger ihre Melodie dem
innern Geiste der gegebenen Erscheinung ist. Hierauf beruht es, dass
man ein Gedicht als Gesang, oder eine anschauliche Darstellung als
Pantomime, oder beides als Oper der Musik unterlegen kann. Solche
einzelne Bilder des Menschenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik
untergelegt, sind nie mit durchgängiger Nothwendigkeit ihr verbunden
oder entsprechend; sondern sie stehen zu ihr nur im Verhältniss eines
beliebigen Beispiels zu einem allgemeinen Begriff: sie stellen in
der Bestimmtheit der Wirklichkeit Dasjenige dar, was die Musik in
der Allgemeinheit blosser Form aussagt. Denn die Melodien sind
gewissermaassen, gleich den allgemeinen Begriffen, ein Abstractum
der Wirklichkeit. Diese nämlich, also die Welt der einzelnen Dinge,
liefert das Anschauliche, das Besondere und Individuelle, den
einzelnen Fall, sowohl zur Allgemeinheit der Begriffe, als zur
Allgemeinheit der Melodien, welche beide Allgemeinheiten einander aber
in gewisser Hinsicht entgegengesetzt sind; indem die Begriffe nur
die allererst aus der Anschauung abstrahirten Formen, gleichsam die
abgezogene äussere Schale der Dinge enthalten, also ganz eigentlich
Abstracta sind; die Musik hingegen den innersten aller Gestaltung
vorhergängigen Kern, oder das Herz der Dinge giebt. Dies Verhältniss
liesse sich recht gut in der Sprache der Scholastiker ausdrücken,
indem man sagte: die Begriffe sind die universalia post rem, die
Musik aber giebt die universalia ante rem, und die Wirklichkeit die
universalia in re. Dass aber überhaupt eine Beziehung zwischen einer
Composition und einer anschaulichen Darstellung möglich ist, beruht,
wie gesagt, darauf, dass beide nur ganz verschiedene Ausdrücke
desselben innern Wesens der Welt sind. Wann nun im einzelnen Fall
eine solche Beziehung wirklich vorhanden ist, also der Componist die
Willensregungen, welche den Kern einer Begebenheit ausmachen, in der
allgemeinen Sprache der Musik auszusprechen gewusst hat: dann ist
die Melodie des Liedes, die Musik der Oper ausdrucksvoll. Die vom
Componisten aufgefundene Analogie zwischen jenen beiden muss aber
aus der unmittelbaren Erkenntniss des Wesens der Welt, seiner
Vernunft unbewusst, hervorgegangen und darf nicht, mit bewusster
Absichtlichkeit, durch Begriffe vermittelte Nachahmung sein: sonst
spricht die Musik nicht das innere Wesen, den Willen selbst aus;
sondern ahmt nur seine Erscheinung ungenügend nach; wie dies alle
eigentlich nachbildende Musik thut". -
Wir verstehen also, nach der Lehre Schopenhauer's, die Musik als die
Sprache des Willens unmittelbar und fühlen unsere Phantasie angeregt,
jene zu uns redende, unsichtbare und doch so lebhaft bewegte
Geisterwelt zu gestalten und sie in einem analogen Beispiel uns zu
verkörpern. Andrerseits kommt Bild und Begriff, unter der Einwirkung
einer wahrhaft entsprechenden Musik, zu einer erhöhten Bedeutsamkeit.
Zweierlei Wirkungen pflegt also die dionysische Kunst auf das
apollinische Kunstvermögen auszuüben: die Musik reizt zum
gleichnissartigen Anschauen der dionysischen Allgemeinheit, die Musik
lässt sodann das gleichnissartige Bild in höchster Bedeutsamkeit
hervortreten. Aus diesen an sich verständlichen und keiner tieferen
Beobachtung unzugänglichen Thatsachen erschliesse ich die Befähigung
der Musik, den Mythus d.h. das bedeutsamste Exempel zu gebären und
gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von der dionysischen
Erkenntniss in Gleichnissen redet. An dem Phänomen des Lyrikers
habe ich dargestellt, wie die Musik im Lyriker darnach ringt, in
apollinischen Bildern über ihr Wesen sich kund zu geben: denken wir
uns jetzt, dass die Musik in ihrer höchsten Steigerung auch zu einer
höchsten Verbildlichung zu kommen suchen muss, so müssen wir für
möglich halten, dass sie auch den symbolischen Ausdruck für ihre
eigentliche dionysische Weisheit zu finden wisse; und wo anders werden
wir diesen Ausdruck zu suchen haben, wenn nicht in der Tragödie und
überhaupt im Begriff des Tragischen?
Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach der einzigen Kategorie
des Scheines und der Schönheit begriffen wird, ist das Tragische in
ehrlicher Weise gar nicht abzuleiten; erst aus dem Geiste der Musik
heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums.
Denn an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns
nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht,
die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio
individuationis, das ewige Leben jenseit aller Erscheinung und trotz
aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. Die metaphysische Freude
am Tragischen ist eine Uebersetzung der instinctiv unbewussten
dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der Held, die höchste
Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch
nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine
Vernichtung nicht berührt wird. "Wir glauben an das ewige Leben", so
ruft die Tragödie; während die Musik die unmittelbare Idee dieses
Lebens ist. Ein ganz verschiednes Ziel hat die Kunst des Plastikers:
hier überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende
Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung, hier siegt die Schönheit
über das dem Leben inhärirende Leiden, der Schmerz wird in einem
gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelogen. In der
dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbe
Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an: "Seid wie ich
bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die
ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem
Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!"
17.
Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins
überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen,
sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wie
alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss,
wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz
hineinzublicken - und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer
Trost reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus.
Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen
dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die
Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem
Uebermaass von unzähligen, sich in's Leben drängenden und stossenden
Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des
Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen
in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der
unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die
Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung
ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen,
nicht als Individuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen
Zeugungslust wir verschmolzen sind.
Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie sagt uns jetzt mit
lichtvoller Bestimmtheit, wie das tragische Kunstwerk der Griechen
wirklich aus dem Geiste der Musik herausgeboren ist: durch welchen
Gedanken wir zum ersten Male dem ursprünglichen und so erstaunlichen
Sinne des Chors gerecht geworden zu sein glauben. Zugleich aber müssen
wir zugeben, dass die vorhin aufgestellte Bedeutung des tragischen
Mythus den griechischen Dichtern, geschweige den griechischen
Philosophen, niemals in begrifflicher Deutlichkeit durchsichtig
geworden ist; ihre Helden sprechen gewissermaassen oberflächlicher
als sie handeln, der Mythus findet in dem gesprochnen Wort durchaus
nicht seine adäquate Objectivation. Das Gefüge der Scenen und die
anschaulichen Bilder offenbaren eine tiefere Weisheit, als der Dichter
selbst in Worte und Begriffe fassen kann: wie das Gleiche auch bei
Shakespeare beobachtet wird, dessen Hamlet z.B. in einem ähnlichen
Sinne oberflächlicher redet als er handelt, so dass nicht aus den
Worten heraus, sondern aus dem vertieften Anschauen und Ueberschauen
des Ganzen jene früher erwähnte Hamletlehre zu entnehmen ist. In
Betreff der griechischen Tragödie, die uns freilich nur als Wortdrama
entgegentritt, habe ich sogar angedeutet, dass jene Incongruenz
zwischen Mythus und Wort uns leicht verführen könnte, sie für flacher
und bedeutungsloser zu halten, als sie ist, und demnach auch eine
oberflächlichere Wirkung für sie vorauszusetzen, als sie nach den
Zeugnissen der Alten gehabt haben muss: denn wie leicht vergisst
man, dass, was dem Wortdichter nicht gelungen war, die höchste
Vergeistigung und Idealität des Mythus zu erreichen, ihm als
schöpferischem Musiker in jedem Augenblick gelingen konnte! Wir
freilich müssen uns die Uebermacht der musikalischen Wirkung fast auf
gelehrtem Wege reconstruiren, um etwas von jenem unvergleichlichen
Troste zu empfangen, der der wahren Tragödie zu eigen sein muss.
Selbst diese musikalische Uebermacht aber würden wir nur, wenn wir
Griechen wären, als solche empfunden haben: während wir in der ganzen
Entfaltung der griechischen Musik - der uns bekannten und vertrauten,
so unendlich reicheren gegenüber - nur das in schüchternem
Kraftgefühle angestimmte Jünglingslied des musikalischen Genius zu
hören glauben. Die Griechen sind, wie die ägyptischen Priester sagen,
die ewigen Kinder, und auch in der tragischen Kunst nur die Kinder,
welche nicht wissen, welches erhabene Spielzeug unter ihren Händen
entstanden ist und - zertrümmert wird.
Jenes Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher und mythischer
Offenbarung, welches von den Anfängen der Lyrik bis zur attischen
Tragödie sich steigert, bricht plötzlich, nach eben erst errungener
üppiger Entfaltung, ab und verschwindet gleichsam von der Oberfläche
der hellenischen Kunst: während die aus diesem Ringen geborne
dionysische Weltbetrachtung in den Mysterien weiterlebt und in den
wunderbarsten Metamorphosen und Entartungen nicht aufhört, ernstere
Naturen an sich zu ziehen Ob sie nicht aus ihrer mystischen Tiefe
einst wieder als Kunst emporsteigen wird?
Hier beschäftigt uns die Frage, ob die Macht, an deren Entgegenwirken
die Tragödie sich brach, für alle Zeit genug Stärke hat, um das
künstlerische Wiedererwachen der Tragödie und der tragischen
Weltbetrachtung zu verhindern. Wenn die alte Tragödie durch den
dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismus der Wissenschaft
aus ihrem Gleise gedrängt wurde, so wäre aus dieser Thatsache auf
einen ewigen Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen
Weltbetrachtung zu schliessen; und erst nachdem der Geist der
Wissenschaft bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf
universale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist
dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu hoffen sein: für welche
Culturform wir das Symbol des musiktreibenden Sokrates, in dem früher
erörterten Sinne, hinzustellen hätten. Bei dieser Gegenüberstellung
verstehe ich unter dem Geiste der Wissenschaft jenen zuerst in
der Person des Sokrates an's Licht gekommenen Glauben an die
Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens.
Wer sich an die nächsten Folgen dieses rastlos vorwärtsdringenden
Geistes der Wissenschaft erinnert, wird sich sofort vergegenwärtigen,
wie durch ihn der Mythus vernichtet wurde und wie durch diese
Vernichtung die Poesie aus ihrem natürlichen idealen Boden, als eine
nunmehr heimathlose, verdrängt war. Haben wir mit Recht der Musik die
Kraft zugesprochen, den Mythus wieder aus sich gebären zu können, so
werden wir den Geist der Wissenschaft auch auf der Bahn zu suchen
haben, wo er dieser mythenschaffenden Kraft der Musik feindlich
entgegentritt. Dies geschieht in der Entfaltung des neueren attischen
Dithyrambus, dessen Musik nicht mehr das innere Wesen, den Willen
selbst aussprach, sondern nur die Erscheinung ungenügend, in einer
durch Begriffe vermittelten Nachahmung wiedergab: von welcher
innerlich entarteten Musik sich die wahrhaft musikalischen Naturen mit
demselben Widerwillen abwandten, den sie vor der kunstmörderischen
Tendenz des Sokrates hatten. Der sicher zugreifende Instinct des
Aristophanes hat gewiss das Rechte erfasst, wenn er Sokrates selbst,
die Tragödie des Euripides und die Musik der neueren Dithyrambiker
in dem gleichen Gefühle des Hasses zusammenfasste und in allen drei
Phänomenen die Merkmale einer degenerirten Cultur witterte. Durch
jenen neueren Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum
imitatorischen Conterfei der Erscheinung z.B. einer Schlacht, eines
Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffenden Kraft
gänzlich beraubt worden. Denn wenn sie unsere Ergetzung nur dadurch
zu erregen sucht, dass sie uns zwingt, äusserliche Analogien zwischen
einem Vorgange des Lebens und der Natur und gewissen rhythmischen
Figuren und charakteristischen Klängen der Musik zu suchen, wenn sich
unser Verstand an der Erkenntniss dieser Analogien befriedigen soll,
so sind wir in eine Stimmung herabgezogen, in der eine Empfängniss
des Mythischen unmöglich ist; denn der Mythus will als ein einziges
Exempel einer in's Unendliche hinein starrenden Allgemeinheit und
Wahrheit anschaulich empfunden werden. Die wahrhaft dionysische
Musik tritt uns als ein solcher allgemeiner Spiegel des Weltwillens
gegenüber: jenes anschauliche Ereigniss, das sich in diesem Spiegel
bricht, erweitert sich sofort für unser Gefühl zum Abbilde einer
ewigen Wahrheit. Umgekehrt wird ein solches anschauliches Ereigniss
durch die Tonmalerei des neueren Dithyrambus sofort jedes mythischen
Charakters entkleidet; jetzt ist die Musik zum dürftigen Abbilde der
Erscheinung geworden und darum unendlich ärmer als die Erscheinung
selbst: durch welche Armuth sie für unsere Empfindung die Erscheinung
selbst noch herabzieht, so dass jetzt z.B. eine derartig musikalisch
imitirte Schlacht sich in Marschlärm, Signalklängen u.s.w. erschöpft,
und unsere Phantasie gerade bei diesen Oberflächlichkeiten
festgehalten wird. Die Tonmalerei ist also in jeder Beziehung das
Gegenstück zu der mythenschaffenden Kraft der wahren Musik: durch
sie wird die Erscheinung noch ärmer als sie ist, während durch
die dionysische Musik die einzelne Erscheinung sich zum Weltbilde
bereichert und erweitert. Es war ein mächtiger Sieg des undionysischen
Geistes, als er, in der Entfaltung des neueren Dithyrambus, die
Musik sich selbst entfremdet und sie zur Sclavin der Erscheinung
herabgedrückt hatte. Euripides, der in einem höhern Sinne eine
durchaus unmusikalische Natur genannt werden muss, ist aus eben
diesem Grunde leidenschaftlicher Anhänger der neueren dithyrambischen
Musik und verwendet mit der Freigebigkeit eines Räubers alle ihre
Effectstücke und Manieren.
Nach einer anderen Seite sehen wir die Kraft dieses undionysischen,
gegen den Mythus gerichteten Geistes in Thätigkeit, wenn wir unsere
Blicke auf das Ueberhandnehmen der Charakterdarstellung und des
psychologischen Raffinements in der Tragödie von Sophokles ab richten.
Der Charakter soll sich nicht mehr zum ewigen Typus erweitern lassen,
sondern im Gegentheil so durch künstliche Nebenzüge und Schattirungen,
durch feinste Bestimmtheit aller Linien individuell wirken, dass
der Zuschauer überhaupt nicht mehr den Mythus, sondern die mächtige
Naturwahrheit und die Imitationskraft des Künstlers empfindet. Auch
hier gewahren wir den Sieg der Erscheinung über das Allgemeine und
die Lust an dem einzelnen gleichsam anatomischen Präparat, wir
athmen bereits die Luft einer theoretischen Welt, welcher die
wissenschaftliche Erkenntniss höher gilt als die künstlerische
Wiederspiegelung einer Weltregel. Die Bewegung auf der Linie des
Charakteristischen geht schnell weiter: während noch Sophokles ganze
Charactere malt und zu ihrer raffinirten Entfaltung den Mythus
ins Joch spannt, malt Euripides bereits nur noch grosse einzelne
Charakterzüge, die sich in heftigen Leidenschaften zu äussern wissen;
in der neuern attischen Komödie giebt es nur noch Masken mit einem
Ausdruck, leichtsinnige Alte, geprellte Kuppler, verschmitzte Sclaven
in unermüdlicher Wiederholung. Wohin ist jetzt der mythenbildende
Geist der Musik? Was jetzt noch von Musik übrig ist, das ist entweder
Aufregungs- oder Erinnerungsmusik d.h. entweder ein Stimulanzmittel
für stumpfe und verbrauchte Nerven oder Tonmalerei. Für die erstere
kommt es auf den untergelegten Text kaum noch an: schon bei Euripides
geht es, wenn seine Helden oder Chöre erst zu singen anfangen, recht
lüderlich zu; wohin mag es bei seinen frechen Nachfolgern gekommen
sein?
Am allerdeutlichsten aber offenbart sich der neue undionysische Geist
in den Schlüssen der neueren Dramen. In der alten Tragödie war der
metaphysische Trost am Ende zu spüren gewesen, ohne den die Lust
an der Tragödie überhaupt nicht zu erklären ist; am reinsten tönt
vielleicht im Oedipus auf Kolonos der versöhnende Klang aus einer
anderen Welt. Jetzt, als der Genius der Musik aus der Tragödie
entflohen war, ist, im strengen Sinne, die Tragödie todt: denn woher
sollte man jetzt jenen metaphysischen Trost schöpfen können? Man
suchte daher nach einer irdischen Lösung der tragischen Dissonanz;
der Held, nachdem er durch das Schicksal hinreichend gemartert war,
erntete in einer stattlichen Heirat, in göttlichen Ehrenbezeugungen
einen wohlverdienten Lohn. Der Held war zum Gladiator geworden, dem
man, nachdem er tüchtig geschunden und mit Wunden überdeckt war,
gelegentlich die Freiheit schenkte. Der deus ex machina ist an Stelle
des metaphysischen Trostes getreten. Ich will nicht sagen, dass die
tragische Weltbetrachtung überall und völlig durch den andrängenden
Geist des Undionysischen zerstört wurde: wir wissen nur, dass sie
sich aus der Kunst gleichsam in die Unterwelt, in einer Entartung
zum Geheimcult, flüchten musste. Aber auf dem weitesten Gebiete der
Oberfläche des hellenischen Wesens wüthete der verzehrende Hauch jenes
Geistes, welcher sich in jener Form der "griechischen Heiterkeit"
kundgiebt, von der bereits früher, als von einer greisenhaft
unproductiven Daseinslust, die Rede war; diese Heiterkeit ist ein
Gegenstück zu der herrlichen "Naivetät" der älteren Griechen, wie sie,
nach der gegebenen Charakteristik, zu fassen ist als die aus einem
düsteren Abgrunde hervorwachsende Blüthe der apollinischen Cultur, als
der Sieg, den der hellenische Wille durch seine Schönheitsspiegelung
über das Leiden und die Weisheit des Leidens davonträgt. Die
edelste Form jener anderen Form der "griechischen Heiterkeit", der
alexandrinischen, ist die Heiterkeit des theoretischen Menschen:
sie zeigt dieselben charakteristischen Merkmale, die ich soeben aus
dem Geiste des Undionysischen ableitete - dass sie die dionysische
Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzulösen trachtet,
dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eine irdische
Consonanz, ja einen eigenen deus ex machina setzt, nämlich den Gott
der Maschinen und Schmelztiegel, d.h. die im Dienste des höheren
Egoismus erkannten und verwendeten Kräfte der Naturgeister, dass
sie an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die
Wissenschaft geleitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande
ist, den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren
Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: "Ich
will dich: du bist werth erkannt zu werden".
18.
Es ist ein ewiges Phänomen: immer findet der gierige Wille ein Mittel,
durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im
Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen. Diesen fesselt die
sokratische Lust des Erkennens und der Wahn, durch dasselbe die ewige
Wunde des Daseins heilen zu können, jenen umstrickt der vor seinen
Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst, jenen
wiederum der metaphysische Trost, dass unter dem Wirbel der
Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst: um von den
gemeineren und fast noch kräftigeren Illusionen, die der Wille in
jedem Augenblick bereithält, zu schweigen. Jene drei Illusionsstufen
sind überhaupt nur für die edler ausgestatteten Naturen, von denen die
Last und Schwere des Daseins überhaupt mit tieferer Unlust empfunden
wird und die durch ausgesuchte Reizmittel über diese Unlust
hinwegzutäuschen sind. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was wir
Cultur nennen: je nach der Proportion der Mischungen haben wir eine
vorzugsweise sokratische oder künstlerische oder tragische Cultur:
oder wenn man historische Exemplificationen erlauben will: es giebt
entweder eine alexandrinische oder eine hellenische oder eine
buddhaistische Cultur.
Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Cultur
befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften
ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen
Menschen, dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist. Alle unsere
Erziehungsmittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge: jede andere
Existenz hat sich mühsam nebenbei emporzuringen, als erlaubte, nicht
als beabsichtigte Existenz. In einem fast erschreckenden Sinne ist
hier eine lange Zeit der Gebildete allein in der Form des Gelehrten
gefunden worden; selbst unsere dichterischen Künste haben sich aus
gelehrten Imitationen entwickeln müssen, und in dem Haupteffect des
Reimes erkennen wir noch die Entstehung unserer poetischen Form aus
künstlichen Experimenten mit einer nicht heimischen, recht eigentlich
gelehrten Sprache. Wie unverständlich müsste einem ächten Griechen der
an sich verständliche moderne Culturmensch Faust erscheinen, der durch
alle Facultäten unbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und
dem Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben Sokrates
zu stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne Mensch die Grenzen
jener sokratischen Erkenntnisslust zu ahnen beginnt und aus dem weiten
wüsten Wissensmeere nach einer Küste verlangt. Wenn Goethe einmal zu
Eckermann, mit Bezug auf Napoleon, äussert: "Ja mein Guter, es giebt
auch eine Productivität der Thaten", so hat er, in anmuthig naiver
Weise, daran erinnert, dass der nicht theoretische Mensch für den
modernen Menschen etwas Unglaubwürdiges und Staunenerregendes ist,
so dass es wieder der Weisheit eines Goethe bedarf, um auch eine so
befremdende Existenzform begreiflich, ja verzeihlich zu finden.
Und nun soll man sich nicht verbergen, was im Schoosse dieser
sokratischen Cultur verborgen liegt! Der unumschränkt sich wähnende
Optimismus! Nun soll man nicht erschrecken, wenn die Früchte dieses
Optimismus reifen, wenn die von einer derartigen Cultur bis in die
niedrigsten Schichten hinein durchsäuerte Gesellschaft allmählich
unter üppigen Wallungen und Begehrungen erzittert, wenn der Glaube an
das Erdenglück Aller, wenn der Glaube an die Möglichkeit einer solchen
allgemeinen Wissenscultur allmählich in die drohende Forderung eines
solchen alexandrinischen Erdenglückes, in die Beschwörung eines
Euripideischen deus ex machina umschlägt! Man soll es merken: die
alexandrinische Cultur braucht einen Sclavenstand, um auf die Dauer
existieren zu können: aber sie leugnet, in ihrer optimistischen
Betrachtung des Daseins, die Nothwendigkeit eines solchen Standes
und geht deshalb, wenn der Effect ihrer schönen Verführungs und
Beruhigungsworte von der "Würde des Menschen" und der "Würde der
Arbeit" verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung
entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen
Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten
gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondern für alle
Generationen Rache zu nehmen. Wer wagt es, solchen drohenden Stürmen
entgegen, sicheren Muthes an unsere blassen und ermüdeten Religionen
zu appelliren, die selbst in ihren Fundamenten zu Gelehrtenreligionen
entartet sind: so dass der Mythus, die nothwendige Voraussetzung jeder
Religion, bereits überall gelähmt ist, und selbst auf diesem Bereich
jener optimistische Geist zur Herrschaft gekommen ist, den wir als den
Vernichtungskeim unserer Gesellschaft eben bezeichnet haben.
Während das im Schoosse der theoretischen Cultur schlummernde Unheil
allmählich den modernen Menschen zu ängstigen beginnt, und er,
unruhig, aus dem Schatze seiner Erfahrungen nach Mitteln greift, um
die Gefahr abzuwenden, ohne selbst an diese Mittel recht zu glauben;
während er also seine eigenen Consequenzen zu ahnen beginnt:
haben grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen
Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen
gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt
darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale
Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen: bei welchem
Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt
wurde, welche, an der Hand der Causalität, sich anmaasst, das innerste
Wesen der Dinge ergründen zu können. Der ungeheuren Tapferkeit und
Weisheit Kant's und Schopenhauer's ist der schwerste Sieg gelungen,
der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus,
der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist. Wenn dieser an die
Erkennbarkeit und Ergründlichkeit aller Welträthsel, gestützt auf
die ihm unbedenklichen aeternae veritates, geglaubt und Raum, Zeit
und Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster
Gültigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlich nur
dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der Maja, zur einzigen
und höchsten Realität zu erheben und sie an die Stelle des innersten
und wahren Wesens der Dinge zu setzen und die wirkliche Erkenntniss
von diesem dadurch unmöglich zu machen, d.h., nach einem
Schopenhauer'schen Ausspruche, den Träumer noch fester einzuschläfern
(W. a. W. u. V. I, p. 498). Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur
eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage: deren
wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als
höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich, ungetäuscht durch
die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem
Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige
Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu
ergreifen sucht. Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit
dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug ins
Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter, die
stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoctrinen
jenes Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen "resolut
zu leben": sollte es nicht nöthig sein, dass der tragische Mensch
dieser Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken,
eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, die Tragödie
als die ihm zugehörige Helena begehren und mit Faust ausrufen muss:
Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt,
In's Leben ziehn die einzigste Gestalt?
Nachdem aber die sokratische Cultur von zwei Seiten aus erschüttert
ist und das Scepter ihrer Unfehlbarkeit nur noch mit zitternden Händen
zu halten vermag, einmal aus Furcht vor ihren eigenen Consequenzen,
die sie nachgerade zu ahnen beginnt, sodann weil sie selbst von der
ewigen Gültigkeit ihres Fundamentes nicht mehr mit dem früheren naiven
Zutrauen überzeugt ist: so ist es ein trauriges Schauspiel, wie sich
der Tanz ihres Denkens sehnsüchtig immer auf neue Gestalten stürzt,
um sie zu umarmen, und sie dann plötzlich wieder, wie Mephistopheles
die verführerischen Lamien, schaudernd fahren lässt. Das ist ja das
Merkmal jenes "Bruches", von dem Jedermann als von dem Urleiden der
modernen Cultur zu reden pflegt, dass der theoretische Mensch vor
seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt
sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: ängstlich
läuft er am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch
mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das
optimistische Betrachten verzärtelt. Dazu fühlt er, wie eine Cultur,
die auf dem Princip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde
gehen muss, wenn sie anfängt, unlogisch zu werden d.h. vor ihren
Consequenzen zurück zu fliehen. Unsere Kunst offenbart diese
allgemeine Noth: umsonst dass man sich an alle grossen productiven
Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst dass man die ganze
"Weltlitteratur" zum Troste des modernen Menschen um ihn versammelt
und ihn mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zeiten
hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe: er
bleibt doch der ewig Hungernde, der "Kritiker" ohne Lust und Kraft,
der alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector
ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet.
19.
Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Cultur nicht
schärfer bezeichnen, als wenn man sie die Cultur der Oper nennt: denn
auf diesem Gebiete hat sich diese Cultur mit eigener Naivetät über ihr
Wollen und Erkennen ausgesprochen, zu unserer Verwunderung, wenn wir
die Genesis der Oper und die Thatsachen der Opernentwicklung mit
den ewigen Wahrheiten des Apollinischen und des Dionysischen
zusammenhalten. Ich erinnere zunächst an die Entstehung des stilo
rappresentativo und des Recitativs. Ist es glaublich, dass diese
gänzlich veräusserlichte, der Andacht unfähige Musik der Oper von
einer Zeit mit schwärmerischer Gunst, gleichsam als die Wiedergeburt
aller wahren Musik, empfangen und gehegt werden konnte, aus der sich
soeben die unaussprechbar erhabene und heilige Musik Palestrina's
erhoben hatte? Und wer möchte andrerseits nur die zerstreuungssüchtige
Ueppigkeit jener Florentiner Kreise und die Eitelkeit ihrer
dramatischen Sänger für die so ungestüm sich verbreitende Lust an der
Oper verantwortlich machen? Dass in derselben Zeit, ja in demselben
Volke neben dem Gewölbebau Palestrinischer Harmonien, an dem das
gesammte christliche Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft für
eine halbmusikalisch Sprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer
im Wesen des Recitativs mitwirkenden ausserkünstlerischen Tendenz zu
erklären.
Dem Zuhörer, der das Wort unter dem Gesange deutlich vernehmen will,
entspricht der Sänger dadurch, dass er mehr spricht als singt und dass
er den pathetischen Wortausdruck in diesem Halbgesange verschärft:
durch diese Verschärfung des Pathos erleichtert er das Verständniss
des Wortes und überwindet jene übrig gebliebene Hälfte der Musik. Die
eigentliche Gefahr, die ihm jetzt droht, ist die, dass er der Musik
einmal zur Unzeit das Obergewicht ertheilt, wodurch sofort Pathos
der Rede und Deutlichkeit des Wortes zu Grunde gehen müsste: während
er andrerseits immer den Trieb zu musikalischer Entladung und zu
virtuosenhafter Präsentation seiner Stimme fühlt. Hier kommt ihm
der "Dichter" zu Hülfe, der ihm genug Gelegenheiten zu lyrischen
Interjectionen, Wort- und Sentenzenwiederholungen u.s.w. zu bieten
weiss: an welchen Stellen der Sänger jetzt in dem rein musikalischen
Elemente, ohne Rücksicht auf das Wort, ausruhen kann. Dieser Wechsel
affectvoll eindringlicher, doch nur halb gesungener Rede und ganz
gesungener Interjection, der im Wesen des stilo rappresentativo
liegt, dies rasch wechselnde Bemühen, bald auf den Begriff und
die Vorstellung, bald auf den musikalischen Grund des Zuhörers zu
wirken, ist etwas so gänzlich Unnatürliches und den Kunsttrieben des
Dionysischen und des Apollinischen in gleicher Weise so innerlich
Widersprechendes, dass man auf einen Ursprung des Recitativs zu
schliessen hat, der ausserhalb aller künstlerischen Instincte liegt.
Das Recitativ ist nach dieser Schilderung zu definiren als die
Vermischung des epischen und des lyrischen Vortrags und zwar
keinesfalls die innerlich beständige Mischung, die bei so gänzlich
disparaten Dingen nicht erreicht werden konnte, sondern die
äusserlichste mosaikartige Conglutination, wie etwas Derartiges im
Bereich der Natur und der Erfahrung gänzlich vorbildlos ist. Dies war
aber nicht die Meinung jener Erfinder des Recitativs: vielmehr glauben
sie selbst und mit ihnen ihr Zeitalter, dass durch jenen stilo
rappresentativo das Geheimniss der antiken Musik gelöst sei, aus dem
sich allein die ungeheure Wirkung eines Orpheus, Amphion, ja auch
der griechischen Tragödie erklären lasse. Der neue Stil galt als die
Wiedererweckung der wirkungsvollsten Musik, der altgriechischen:
ja man durfte sich, bei der allgemeinen und ganz volksthümlichen
Auffassung der homerischen Welt als der Urwelt, dem Traume
überlassen, jetzt wieder in die paradiesischen Anfänge der Menschheit
hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik jene
unübertroffne Reinheit, Macht und Unschuld gehabt haben müsste,
von der die Dichter in ihren Schäferspielen so rührend zu erzählen
wussten. Hier sehen wir in das innerlichste Werden dieser recht
eigentlich modernen Kunstgattung, der Oper: ein mächtiges Bedürfniss
erzwingt sich hier eine Kunst, aber ein Bedürfniss unaesthetischer
Art: die Sehnsucht zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche
Existenz des künstlerischen und guten Menschen. Das Recitativ galt
als die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen; die Oper als das
wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroisch guten Wesens,
das zugleich in allen seinen Handlungen einem natürlichen Kunsttriebe
folgt, das bei allem, was es zu sagen hat, wenigstens etwas singt, um,
bei der leisesten Gefühlserregung, sofort mit voller Stimme zu singen.
Es ist für uns jetzt gleichgültig, dass mit diesem neugeschaffnen
Bilde des paradiesischen Künstlers die damaligen Humanisten gegen
die alte kirchliche Vorstellung vom an sich verderbten und verlornen
Menschen ankämpften: so dass die Oper als das Oppositionsdogma vom
guten Menschen zu verstehen ist, mit dem aber zugleich ein Trostmittel
gegen jenen Pessimismus gefunden war, zu dem gerade die Ernstgesinnten
jener Zeit, bei der grauenhaften Unsicherheit aller Zustände, am
stärksten gereizt waren. Genug, wenn wir erkannt haben, wie der
eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser neuen Kunstform in der
Befriedigung eines gänzlich unaesthetischen Bedürfnisses liegt, in der
optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich, in der Auffassung
des Urmenschen als des von Natur guten und künstlerischen Menschen:
welches Princip der Oper sich allmählich in eine drohende und
entsetzliche Forderung umgewandelt hat, die wir, im Angesicht der
socialistischen Bewegungen der Gegenwart, nicht mehr überhören
können. Der "gute Urmensch" will seine Rechte: welche paradiesischen
Aussichten!
Ich stelle daneben noch eine eben so deutliche Bestätigung meiner
Ansicht, dass die Oper auf den gleichen Principien mit unserer
alexandrinischen Cultur aufgebaut ist. Die Oper ist die Geburt des
theoretischen Menschen, des kritischen Laien, nicht des Künstlers:
eine der befremdlichsten Thatsachen in der Geschichte aller Künste. Es
war die Forderung recht eigentlich unmusikalischer Zuhörer, dass man
vor allem das Wort verstehen müsse: so dass eine Wiedergeburt der
Tonkunst nur zu erwarten sei, wenn man irgend eine Gesangesweise
entdecken werde, bei welcher das Textwort über den Contrapunkt wie der
Herr über den Diener herrsche. Denn die Worte seien um so viel edler
als das begleitende harmonische System, um wie viel die Seele edler
als der Körper sei. Mit der laienhaft unmusikalischen Rohheit dieser
Ansichten wurde in den Anfängen der Oper die Verbindung von Musik,
Bild und Wort behandelt; im Sinne dieser Aesthetik kam es auch in den
vornehmen Laienkreisen von Florenz, durch hier patronisirte Dichter
und Sänger, zu den ersten Experimenten. Der kunstohnmächtige Mensch
erzeugt sich eine Art von Kunst, gerade dadurch, dass er der
unkünstlerische Mensch an sich ist. Weil er die dionysische Tiefe
der Musik nicht ahnt, verwandelt er sich den Musikgenuss zur
verstandesmässigen Wort- und Tonrhetorik der Leidenschaft im stilo
rappresentativo und zur Wohllust der Gesangeskünste; weil er
keine Vision zu schauen vermag, zwingt er den Maschinisten und
Decorationskünstler in seinen Dienst; weil er das wahre Wesen
des Künstlers nicht zu erfassen weiss, zaubert er vor sich den
"künstlerischen Urmenschen" nach seinem Geschmack hin d.h. den
Menschen, der in der Leidenschaft singt und Verse spricht. Er träumt
sich in eine Zeit hinein, in der die Leidenschaft ausreicht, um
Gesänge und Dichtungen zu erzeugen: als ob jeder Affect im Stande
gewesen sei, etwas Künstlerisches zu schaffen. Die Voraussetzung der
Oper ist ein falscher Glaube über den künstlerischen Prozess und zwar
jener idyllische Glaube, dass eigentlich jeder empfindende Mensch
Künstler sei. Im Sinne dieses Glaubens ist die Oper der Ausdruck des
Laienthums in der Kunst, das seine Gesetze mit dem heitern Optimismus
des theoretischen Menschen dictirt.
Sollten wir wünschen, die beiden eben geschilderten, bei der
Entstehung der Oper wirksamen Vorstellungen unter einen Begriff zu
vereinigen, so würde uns nur übrig bleiben, von einer idyllischen
Tendenz der Oper zu sprechen: wobei wir uns allein der Ausdrucksweise
und Erklärung Schillers zu bedienen hätten. Entweder, sagt dieser,
ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als
verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein
Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das
erste giebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester
Bedeutung. Hier ist nun sofort auf das gemeinsame Merkmal jener beiden
Vorstellungen in der Operngenesis aufmerksam zu machen, dass in ihnen
das Ideal nicht als unerreicht, die Natur nicht als verloren empfunden
wird. Es gab nach dieser Empfindung eine Urzeit des Menschen, in der
er am Herzen der Natur lag und bei dieser Natürlichkeit zugleich das
Ideal der Menschheit, in einer paradiesischen Güte und Künstlerschaft,
erreicht hatte: von welchem vollkommnen Urmenschen wir alle abstammen
sollten, ja dessen getreues Ebenbild wir noch wären: nur müssten wir
Einiges von uns werfen, um uns selbst wieder als diesen Urmenschen zu
erkennen, vermöge einer freiwilligen Entäusserung von überflüssiger
Gelehrsamkeit, von überreicher Cultur. Der Bildungsmensch der
Renaissance liess sich durch seine opernhafte Imitation der
griechischen Tragödie zu einem solchen Zusammenklang von Natur und
Ideal, zu einer idyllischen Wirklichkeit zurückgeleiten, er benutzte
diese Tragödie, wie Dante den Virgil benutzte, um bis an die Pforten
des Paradieses geführt zu werden: während er von hier aus selbständig
noch weiter schritt und von einer Imitation der höchsten griechischen
Kunstform zu einer "Wiederbringung aller Dinge", zu einer Nachbildung
der ursprünglichen Kunstwelt des Menschen überging. Welche
zuversichtliche Gutmüthigkeit dieser verwegenen Bestrebungen, mitten
im Schoosse der theoretischen Cultur! - einzig nur aus dem tröstenden
Glauben zu erklären, dass "der Mensch an sich" der ewig tugendhafte
Opernheld, der ewig flötende oder singende Schäfer sei, der sich
endlich immer als solchen wiederfinden müsse, falls er sich selbst
irgendwann einmal wirklich auf einige Zeit verloren habe, einzig
die Frucht jenes Optimismus, der aus der Tiefe der sokratischen
Weltbetrachtung hier wie eine süsslich verführerische Duftsäule
emporsteigt.
Es liegt also auf den Zügen der Oper keinesfalls jener elegische
Schmerz eines ewigen Verlustes, vielmehr die Heiterkeit des ewigen
Wiederfindens, die bequeme Lust an einer idyllischen Wirklichkeit, die
man wenigstens sich als wirklich in jedem Augenblicke vorstellen kann:
wobei man vielleicht einmal ahnt, dass diese vermeinte Wirklichkeit
nichts als ein phantastisch läppisches Getändel ist, dem jeder, der
es an dem furchtbaren Ernst der wahren Natur zu messen und mit den
eigentlichen Urscenen der Menschheitsanfänge zu vergleichen vermöchte,
mit Ekel zurufen müsste: Weg mit dem Phantom! Trotzdem würde man sich
täuschen, wenn man glaubte, ein solches tändelndes Wesen, wie die
Oper ist, einfach durch einen kräftigen Anruf, wie ein Gespenst,
verscheuchen zu können. Wer die Oper vernichten will, muss den Kampf
gegen jene alexandrinische Heiterkeit aufnehmen, die sich in ihr so
naiv über ihre Lieblingsvorstellung ausspricht, ja deren eigentliche
Kunstform sie ist. Was ist aber für die Kunst selbst von dem Wirken
einer Kunstform zu erwarten, deren Ursprünge überhaupt nicht im
aesthetischen Bereiche liegen, die sich vielmehr aus einer halb
moralischen Sphäre auf das künstlerische Gebiet hinübergestohlen
hat und über diese hybride Entstehung nur hier und da einmal
hinwegzutäuschen vermochte? Von welchen Säften nährt sich dieses
parasitische Opernwesen, wenn nicht von denen der wahren Kunst?
Wird nicht zu muthmaassen sein, dass, unter seinen idyllischen
Verführungen, unter seinen alexandrinischen Schmeichelkünsten, die
höchste und wahrhaftig ernst zu nennende Aufgabe der Kunst - das Auge
vom Blick in's Grauen der Nacht zu erlösen und das Subject durch den
heilenden Balsam des Scheins aus dem Krampfe der Willensregungen zu
retten - zu einer leeren und zerstreuenden Ergetzlichkeitstendenz
entarten werde? Was wird aus den ewigen Wahrheiten des Dionysischen
und des Apollinischen, bei einer solchen Stilvermischung, wie ich sie
am Wesen des stilo rappresentativo dargelegt habe? wo die Musik als
Diener, das Textwort als Herr betrachtet, die Musik mit dem Körper,
das Textwort mit der Seele verglichen wird? wo das höchste Ziel
bestenfalls auf eine umschreibende Tonmalerei gerichtet sein wird,
ähnlich wie ehedem im neuen attischen Dithyrambus? wo der Musik ihre
wahre Würde, dionysischer Weltspiegel zu sein, völlig entfremdet
ist, so dass ihr nur übrig bleibt, als Sclavin der Erscheinung, das
Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen und in dem Spiele der Linien
und Proportionen eine äusserliche Ergetzung zu erregen. Einer strengen
Betrachtung fällt dieser verhängnissvolle Einfluss der Oper auf die
Musik geradezu mit der gesammten modernen Musikentwicklung zusammen;
dem in der Genesis der Oper und im Wesen der durch sie repräsentirten
Cultur lauernden Optimismus ist es in beängstigender Schnelligkeit
gelungen, die Musik ihrer dionysischen Weltbestimmung zu entkleiden
und ihr einen formenspielerischen, vergnüglichen Charakter
aufzuprägen: mit welcher Veränderung nur etwa die Metamorphose des
aeschyleischen Menschen in den alexandrinischen Heiterkeitsmenschen
verglichen werden dürfte.
Wenn wir aber mit Recht in der hiermit angedeuteten Exemplification
das Entschwinden des dionysischen Geistes mit einer höchst
auffälligen, aber bisher unerklärten Umwandlung und Degeneration
des griechischen Menschen in Zusammenhang gebracht haben - welche
Hoffnungen müssen in uns aufleben, wenn uns die allersichersten
Auspicien den umgekehrten Prozess, das allmähliche Erwachen des
dionysischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt, verbürgen! Es ist
nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Herakles ewig im üppigen
Frohndienste der Omphale erschlafft. Aus dem dionysischen Grunde
des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den
Urbedingungen der sokratischen Cultur nichts gemein hat und aus
ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr
von dieser Cultur als das Schrecklich Unerklärliche, als das
Uebermächtig-Feindselige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir
sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven,
von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben. Was vermag die
erkenntnisslüsterne Sokratik unserer Tage günstigsten Falls mit diesem
aus unerschöpflichen Tiefen emporsteigenden Dämon zu beginnen? Weder
von dem Zacken- und Arabeskenwerk der Opernmelodie aus, noch mit Hülfe
des arithmetischen Rechenbretts der Fuge und der contrapunktischen
Dialektik will sich die Formel finden lassen, in deren dreimal
gewaltigem Licht man jenen Dämon sich unterwürfig zu machen und zum
Reden zu zwingen vermöchte. Welches Schauspiel, wenn jetzt unsere
Aesthetiker, mit dem Fangnetz einer ihnen eignen "Schönheit", nach
dem vor ihnen mit unbegreiflichem Leben sich tummelnden Musikgenius
schlagen und haschen, unter Bewegungen, die nach der ewigen Schönheit
ebensowenig als nach dem Erhabenen beurtheilt werden wollen. Man mag
sich nur diese Musikgönner einmal leibhaft und in der Nähe besehen,
wenn sie so unermüdlich Schönheit! Schönheit! rufen, ob sie sich
dabei wie die im Schoosse des Schönen gebildeten und verwöhnten
Lieblingskinder der Natur ausnehmen oder ob sie nicht vielmehr für
die eigne Rohheit eine lügnerisch verhüllende Form, für die eigne
empfindungsarme Nüchternheit einen aesthetischen Vorwand suchen: wobei
ich z.B. an Otto Jahn denke. Vor der deutschen Musik aber mag sich
der Lügner und Heuchler in Acht nehmen: denn gerade sie ist, inmitten
aller unserer Cultur, der einzig reine, lautere und läuternde
Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des grossen
Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen:
alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen, wird einmal
vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen.
Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen strömenden
Geiste der deutschen Philosophie, durch Kant und Schopenhauer, es
ermöglicht war, die zufriedne Daseinslust der wissenschaftlichen
Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen, zu vernichten, wie durch
diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernstere Betrachtung der
ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als
die in Begriffe gefasste dionysische Weisheit bezeichnen können: wohin
weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der deutschen Musik
und der deutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Daseinsform,
über deren Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahnend
unterrichten können? Denn diesen unausmessbaren Werth behält für uns,
die wir an der Grenzscheide zweier verschiedener Daseinsformen stehen,
das hellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene Uebergänge und
Kämpfe zu einer classisch-belehrenden Form ausgeprägt sind: nur dass
wir gleichsam in umgekehrter Ordnung die grossen Hauptepochen des
hellenischen Wesens analogisch durcherleben und zum Beispiel jetzt
aus dem alexandrinischen Zeitalter rückwärts zur Periode der Tragödie
zu schreiten scheinen. Dabei lebt in uns die Empfindung, als ob die
Geburt eines tragischen Zeitalters für den deutschen Geist nur eine
Rückkehr zu sich selbst, ein seliges Sichwiederfinden zu bedeuten
habe, nachdem für eine lange Zeit ungeheure von aussen her
eindringende Mächte den in hülfloser Barbarei der Form dahinlebenden
zu einer Knechtschaft unter ihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich
darf er, nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens, vor allen
Völkern kühn und frei, ohne das Gängelband einer romanischen
Civilisation, einherzuschreiten wagen: wenn er nur von einem Volke
unentwegt zu lernen versteht, von dem überhaupt lernen zu können
schon ein hoher Ruhm und eine auszeichnende Seltenheit ist, von den
Griechen. Und wann brauchten wir diese allerhöchsten Lehrmeister mehr
als jetzt, wo wir die Wiedergeburt der Tragödie erleben und in Gefahr
sind, weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten zu können,
wohin sie will?
20.
Es möchte einmal, unter den Augen eines unbestochenen Richters,
abgewogen werden, in welcher Zeit und in welchen Männern bisher der
deutsche Geist von den Griechen zu lernen am kräftigsten gerungen hat;
und wenn wir mit Zuversicht annehmen, dass dem edelsten Bildungskampfe
Goethe's, Schiller's und Winckelmann's dieses einzige Lob zugesprochen
werden müsste, so wäre jedenfalls hinzuzufügen, dass seit jener
Zeit und den nächsten Einwirkungen jenes Kampfes, das Streben auf
einer gleichen Bahn zur Bildung und zu den Griechen zu kommen, in
unbegreiflicher Weise schwächer und schwächer geworden ist. Sollten
wir, um nicht ganz an dem deutschen Geist verzweifeln zu müssen, nicht
daraus den Schluss ziehen dürfen, dass in irgend welchem Hauptpunkte
es auch jenen Kämpfern nicht gelungen sein möchte, in den Kern des
hellenischen Wesens einzudringen und einen dauernden Liebesbund
zwischen der deutschen und der griechischen Cultur herzustellen? So
dass vielleicht ein unbewusstes Erkennen jenes Mangels auch in den
ernsteren Naturen den verzagten Zweifel erregte, ob sie, nach solchen
Vorgängern, auf diesem Bildungswege noch weiter wie jene und überhaupt
zum Ziele kommen würden. Deshalb sehen wir seit jener Zeit das Urtheil
über den Werth der Griechen für die Bildung in der bedenklichsten
Weise entarten; der Ausdruck mitleidiger Ueberlegenheit ist in den
verschiedensten Feldlagern des Geistes und des Ungeistes zu hören;
anderwärts tändelt eine gänzlich wirkungslose Schönrednerei mit
der "griechischen Harmonie", der "griechischen Schönheit", der
"griechischen Heiterkeit". Und gerade in den Kreisen, deren Würde
es sein könnte, aus dem griechischen Strombett unermüdet, zum Heile
deutscher Bildung, zu schöpfen, in den Kreisen der Lehrer an den
höheren Bildungsanstalten hat man am besten gelernt, sich mit den
Griechen zeitig und in bequemer Weise abzufinden, nicht selten bis zu
einem sceptischen Preisgeben des hellenischen Ideals und bis zu einer
gänzlichen Verkehrung der wahren Absicht aller Alterthumsstudien.
Wer überhaupt in jenen Kreisen sich nicht völlig in dem Bemühen, ein
zuverlässiger Corrector von alten Texten oder ein naturhistorischer
Sprachmikroskopiker zu sein, erschöpft hat, der sucht vielleicht
auch das griechische Alterthum, neben anderen Alterthümern, sich
"historisch" anzueignen, aber jedenfalls nach der Methode und mit den
überlegenen Mienen unserer jetzigen gebildeten Geschichtsschreibung.
Wenn demnach die eigentliche Bildungskraft der höheren Lehranstalten
wohl noch niemals niedriger und schwächlicher gewesen ist, wie in
der Gegenwart, wenn der "Journalist", der papierne Sclave des Tages,
in jeder Rücksicht auf Bildung den Sieg über den höheren Lehrer
davongetragen hat, und Letzterem nur noch die bereits oft erlebte
Metamorphose übrig bleibt, sich jetzt nun auch in der Sprechweise des
Journalisten, mit der "leichten Eleganz" dieser Sphäre, als heiterer
gebildeter Schmetterling zu bewegen - in welcher peinlichen Verwirrung
müssen die derartig Gebildeten einer solchen Gegenwart jenes
Phänomen anstarren, das nur etwa aus dem tiefsten Grunde des bisher
unbegriffnen hellenischen Genius analogisch zu begreifen wäre, das
Wiedererwachen des dionysischen Geistes und die Wiedergeburt der
Tragödie? Es giebt keine andere Kunstperiode, in der sich die
sogenannte Bildung und die eigentliche Kunst so befremdet und
abgeneigt gegenübergestanden hätten, als wir das in der Gegenwart mit
Augen sehn. Wir verstehen es, warum eine so schwächliche Bildung die
wahre Kunst hasst; denn sie fürchtet durch sie ihren Untergang. Aber
sollte nicht eine ganze Art der Cultur, nämlich jene sokratisch-
alexandrinische, sich ausgelebt haben, nachdem sie in eine so
zierlich-schmächtige Spitze, wie die gegenwärtige Bildung ist,
auslaufen konnte! Wenn es solchen Helden, wie Schiller und Goethe,
nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in
den hellenischen Zauberberg führt, wenn es bei ihrem muthigsten Ringen
nicht weiter gekommen ist als bis zu jenem sehnsüchtigen Blick, den
die Goethische Iphigenie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat
über das Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcher Helden zu
hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, an einer ganz anderen, von
allen Bemühungen der bisherigen Cultur unberührten Seite die Pforte
von selbst aufthäte - unter dem mystischen Klange der wiedererweckten
Tragödienmusik.
Möge uns Niemand unsern Glauben an eine noch bevorstehende
Wiedergeburt des hellenischen Alterthums zu verkümmern suchen; denn in
ihm finden wir allein unsre Hoffnung für eine Erneuerung und Läuterung
des deutschen Geistes durch den Feuerzauber der Musik. Was wüssten wir
sonst zu nennen, was in der Verödung und Ermattung der jetzigen Cultur
irgend welche tröstliche Erwartung für die Zukunft erwecken könnte?
Vergebens spähen wir nach einer einzigen kräftig geästeten Wurzel,
nach einem Fleck fruchtbaren und gesunden Erdbodens: überall Staub,
Sand, Erstarrung, Verschmachten. Da möchte sich ein trostlos
Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, als den Ritter mit
Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet hat, den geharnischten
Ritter mit dem erzenen, harten Blicke, der seinen Schreckensweg,
unbeirrt durch seine grausen Gefährten, und doch hoffnungslos, allein
mit Ross und Hund zu nehmen weiss. Ein solcher Dürerscher Ritter war
unser Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die
Wahrheit. Es giebt nicht Seinesgleichen. -
Aber wie verändert sich plötzlich jene eben so düster geschilderte
Wildniss unserer ermüdeten Cultur, wenn sie der dionysische Zauber
berührt! Ein Sturmwind packt alles Abgelebte, Morsche, Zerbrochne,
Verkümmerte, hüllt es wirbelnd in eine rothe Staubwolke und trägt es
wie ein Geier in die Lüfte. Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem
Entschwundenen: denn was sie sehen, ist wie aus einer Versenkung
an's goldne Licht gestiegen, so voll und grün, so üppig lebendig,
so sehnsuchtsvoll unermesslich. Die Tragödie sitzt inmitten dieses
Ueberflusses an Leben, Leid und Lust, in erhabener Entzückung, sie
horcht einem fernen schwermüthigen Gesange - er erzählt von den
Müttern des Seins, deren Namen lauten: Wahn, Wille, Wehe. - Ja,
meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die
Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist
vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und
wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren
Knien niederlegen. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein: denn
ihr sollt erlöst werden. Ihr sollt den dionysischen Festzug von Indien
nach Griechenland geleiten! Rüstet euch zu hartem Streite, aber glaubt
an die Wunder eures Gottes!
21.
Von diesen exhortativen Tönen in die Stimmung zurückgleitend, die
dem Beschaulichen geziemt, wiederhole ich, dass nur von den Griechen
gelernt werden kann, was ein solches wundergleiches plötzliches
Aufwachen der Tragödie für den innersten Lebensgrund eines Volkes
zu bedeuten hat. Es ist das Volk der tragischen Mysterien, das die
Perserschlachten schlägt: und wiederum braucht das Volk, das jene
Kriege geführt hat, die Tragödie als nothwendigen Genesungstrank. Wer
würde gerade bei diesem Volke, nachdem es durch mehrere Generationen
von den stärksten Zuckungen des dionysischen Dämon bis in's Innerste
erregt wurde, noch einen so gleichmässig kräftigen Erguss des
einfachsten politischen Gefühls, der natürlichsten Heimatsinstincte,
der ursprünglichen männlichen Kampflust vermuthen? Ist es doch bei
jedem bedeutenden Umsichgreifen dionysischer Erregungen immer zu
spüren, wie die dionysische Lösung von den Fesseln des Individuums
sich am allerersten in einer bis zur Gleichgültigkeit, ja
Feindseligkeit gesteigerten Beeinträchtigung der politischen Instincte
fühlbar macht, so gewiss andererseits der staatenbildende Apollo auch
der Genius des principii individuationis ist und Staat und Heimatssinn
nicht ohne Bejahung der individuellen Persönlichkeit leben können.
Von dem Orgiasmus aus führt für ein Volk nur ein Weg, der Weg zum
indischen Buddhaismus, der, um überhaupt mit seiner Sehnsucht in's
Nichts ertragen zu werden, jener seltnen ekstatischen Zustände mit
ihrer Erhebung über Raum, Zeit und Individuum bedarf: wie diese
wiederum eine Philosophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche
Unlust der Zwischenzustände durch eine Vorstellung zu überwinden.
Eben so nothwendig geräth ein Volk, von der unbedingten Geltung der
politischen Triebe aus, in eine Bahn äusserster Verweltlichung, deren
grossartigster, aber auch erschrecklichster Ausdruck das römische
imperium ist.
Zwischen Indien und Rom hingestellt und zu verführerischer Wahl
gedrängt, ist es den Griechen gelungen, in classischer Reinheit
eine dritte Form hinzuzuerfinden, freilich nicht zu langem eigenen
Gebrauche, aber eben darum für die Unsterblichkeit. Denn dass die
Lieblinge der Götter früh sterben, gilt in allen Dingen, aber eben so
gewiss, dass sie mit den Göttern dann ewig leben. Man verlange doch
von dem Alleredelsten nicht, dass es die haltbare Zähigkeit des
Leders habe; die derbe Dauerhaftigkeit, wie sie z.B. dem römischen
Nationaltriebe zu eigen war, gehört wahrscheinlich nicht zu den
nothwendigen Prädicaten der Vollkommenheit. Wenn wir aber fragen, mit
welchem Heilmittel es den Griechen ermöglicht war, in ihrer grossen
Zeit, bei der ausserordentlichen Stärke ihrer dionysischen und
politischen Triebe, weder durch ein ekstatisches Brüten, noch
durch ein verzehrendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre sich zu
erschöpfen, sondern jene herrliche Mischung zu erreichen, wie sie
ein edler, zugleich befeuernder und beschaulich stimmender Wein
hat, so müssen wir der ungeheuren, das ganze Volksleben erregenden,
reinigenden und entladenden Gewalt der Tragödie eingedenk sein; deren
höchsten Werth wir erst ahnen werden, wenn sie uns, wie bei den
Griechen, als Inbegriff aller prophylaktischen Heilkräfte, als die
zwischen den stärksten und an sich verhängnissvollsten Eigenschaften
des Volkes waltende Mittlerin entgegentritt.
Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmus in sich hinein, so dass
sie geradezu die Musik, bei den Griechen, wie bei uns, zur Vollendung
bringt, stellt dann aber den tragischen Mythus und den tragischen
Helden daneben, der dann, einem mächtigen Titanen gleich, die ganze
dionysische Welt auf seinen Rücken nimmt und uns davon entlastet:
während sie andrerseits durch denselben tragischen Mythus, in der
Person des tragischen Helden, von dem gierigen Drange nach diesem
Dasein zu erlösen weiss, und mit mahnender Hand an ein anderes Sein
und an eine höhere Lust erinnert, zu welcher der kämpfende Held
durch seinen Untergang, nicht durch seine Siege sich ahnungsvoll
vorbereitet. Die Tragödie stellt zwischen die universale Geltung
ihrer Musik und den dionysisch empfänglichen Zuhörer ein erhabenes
Gleichniss, den Mythus, und erweckt bei jenem den Schein, als ob die
Musik nur ein höchstes Darstellungsmittel zur Belebung der plastischen
Welt des Mythus sei. Dieser edlen Täuschung vertrauend darf sie jetzt
ihre Glieder zum dithyrambischen Tanze bewegen und sich unbedenklich
einem orgiastischen Gefühle der Freiheit hingeben, in welchem sie als
Musik an sich, ohne jene Täuschung, nicht zu schwelgen wagen dürfte.
Der Mythus schützt uns vor der Musik, wie er ihr andrerseits erst die
höchste Freiheit giebt. Dafür verleiht die Musik, als Gegengeschenk,
dem tragischen Mythus eine so eindringliche und überzeugende
metaphysische Bedeutsamkeit, wie sie Wort und Bild, ohne jene einzige
Hülfe, nie zu erreichen vermögen; und insbesondere überkommt durch sie
den tragischen Zuschauer gerade jenes sichere Vorgefühl einer höchsten
Lust, zu der der Weg durch Untergang und Verneinung führt, so dass
er zu hören meint, als ob der innerste Abgrund der Dinge zu ihm
vernehmlich spräche.
Habe ich dieser schwierigen Vorstellung mit den letzten Sätzen
vielleicht nur einen vorläufigen, für Wenige sofort verständlichen
Ausdruck zu geben vermocht, so darf ich gerade an dieser Stelle nicht
ablassen, meine Freunde zu einem nochmaligen Versuche anzureizen
und sie zu bitten, an einem einzelnen Beispiele unsrer gemeinsamen
Erfahrung sich für die Erkenntniss des allgemeinen Satzes
vorzubereiten. Bei diesem Beispiele darf ich mich nicht auf jene
beziehn, welche die Bilder der scenischen Vorgänge, die Worte und
Affecte der handelnden Personen benutzen, um sich mit dieser Hülfe
der Musikempfindung anzunähern; denn diese alle reden nicht Musik als
Muttersprache und kommen auch, trotz jener Hülfe, nicht weiter als in
die Vorhallen der Musikperception, ohne je deren innerste Heiligthümer
berühren zu dürfen; manche von diesen, wie Gervinus, gelangen auf
diesem Wege nicht einmal in die Vorhallen. Sondern nur an diejenigen
habe ich mich zu wenden, die, unmittelbar verwandt mit der Musik, in
ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit den Dingen fast nur
durch unbewusste Musikrelationen in Verbindung stehen. An diese ächten
Musiker richte ich die Frage, ob sie sich einen Menschen denken
können, der den dritten Act von "Tristan und Isolde" ohne alle
Beihülfe von Wort und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu
percipiren im Stande wäre, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen
aller Seelenflügel zu verathmen? Ein Mensch, der wie hier das Ohr
gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens gelegt hat, der das
rasende Begehren zum Dasein als donnernden Strom oder als zartesten
zerstäubten Bach von hier aus in alle Adern der Welt sich ergiessen
fühlt, er sollte nicht jählings zerbrechen? Er sollte es ertragen,
in der elenden gläsernen Hülle des menschlichen Individuums, den
Wiederklang zahlloser Lust - und Weherufe aus dem "weiten Raum der
Weltennacht" zu vernehmen, ohne bei diesem Hirtenreigen der Metaphysik
sich seiner Urheimat unaufhaltsam zuzuflüchten? Wenn aber doch ein
solches Werk als Ganzes percipirt werden kann, ohne Verneinung der
Individualexistenz, wenn eine solche Schöpfung geschaffen werden
konnte, ohne ihren Schöpfer zu zerschmettern - woher nehmen wir die
Lösung eines solchen Widerspruches?
Hier drängt sich zwischen unsre höchste Musikerregung und jene Musik
der tragische Mythus und der tragische Held, im Grunde nur als
Gleichniss der alleruniversalsten Thatsachen, von denen allein die
Musik auf directem Wege reden kann. Als Gleichniss würde nun aber
der Mythus, wenn wir als rein dionysische Wesen empfänden, gänzlich
wirkungslos und unbeachtet neben uns stehen bleiben, und uns keinen
Augenblick abwendig davon machen, unser Ohr dem Wiederklang der
universalia ante rem zu bieten. Hier bricht jedoch die apollinische
Kraft, auf Wiederherstellung des fast zersprengten Individuums
gerichtet, mit dem Heilbalsam einer wonnevollen Täuschung hervor:
plötzlich glauben wir nur noch Tristan zu sehen, wie er bewegungslos
und dumpf sich fragt: "die alte Weise; was weckt sie mich?" Und was
uns früher wie ein hohles Seufzen aus dem Mittelpunkte des Seins
anmuthete, das will uns jetzt nur sagen, wie "öd und leer das
Meer." Und wo wir athemlos zu erlöschen wähnten, im krampfartigen
Sichausrecken aller Gefühle, und nur ein Weniges uns mit dieser
Existenz zusammenknüpfte, hören und sehen wir jetzt nur den zum
Tode verwundeten und doch nicht sterbenden Helden, mit seinem
verzweiflungsvollen Rufe: "Sehnen! Sehnen! Im Sterben mich zu sehnen,
vor Sehnsucht nicht zu sterben!" Und wenn früher der Jubel des Horns
nach solchem Uebermaass und solcher Ueberzahl verzehrender Qualen
fast wie der Qualen höchste uns das Herz zerschnitt, so steht jetzt
zwischen uns und diesem "Jubel an sich" der jauchzende Kurwenal, dem
Schiffe, das Isolden trägt, zugewandt. So gewaltig auch das Mitleiden
in uns hineingreift, in einem gewissen Sinne rettet uns doch das
Mitleiden vor dem Urleiden der Welt, wie das Gleichnissbild des Mythus
uns vor dem unmittelbaren Anschauen der höchsten Weltidee, wie der
Gedanke und das Wort uns vor dem ungedämmten Ergusse des unbewussten
Willens rettet. Durch jene herrliche apollinische Täuschung dünkt es
uns, als ob uns selbst das Tonreich wie eine plastische Welt gegenüber
träte, als ob auch in ihr nur Tristan's und Isoldens Schicksal, wie
in einem allerzartesten und ausdrucksfähigsten Stoffe, geformt und
bildnerisch ausgeprägt worden sei.
So entreisst uns das Apollinische der dionysischen Allgemeinheit
und entzückt uns für die Individuen; an diese fesselt es unsre
Mitleidserregung, durch diese befriedigt es den nach grossen
und erhabenen Formen lechzenden Schönheitssinn; es führt an uns
Lebensbilder vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem Erfassen des in
ihnen enthaltenen Lebenskernes. Mit der ungeheuren Wucht des Bildes,
des Begriffs, der ethischen Lehre, der sympathischen Erregung
reisst das Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen
Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit des
dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, dass er ein einzelnes
Weltbild, z.B. Tristan und Isolde, sehe und es, durch die Musik,
nur noch besser und innerlicher sehen solle. Was vermag nicht der
heilkundige Zauber des Apollo, wenn er selbst in uns die Täuschung
aufregen kann, als ob wirklich das Dionysische, im Dienste des
Apollinischen, dessen Wirkungen zu steigern vermöchte, ja als ob die
Musik sogar wesentlich Darstellungskunst für einen apollinischen
Inhalt sei?
Bei jener prästabilirten Harmonie, die zwischen dem vollendeten Drama
und seiner Musik waltet, erreicht das Drama einen höchsten, für
das Wortdrama sonst unzugänglichen Grad von Schaubarkeit. Wie
alle lebendigen Gestalten der Scene in den selbständig bewegten
Melodienlinien sich zur Deutlichkeit der geschwungenen Linie vor
uns vereinfachen, ertönt uns das Nebeneinander dieser Linien in
dem mit dem bewegten Vorgange auf zarteste Weise sympathisirenden
Harmonienwechsel: durch welchen uns die Relationen der Dinge in
sinnlich wahrnehmbarer, keinesfalls abstracter Weise, unmittelbar
vernehmbar werden, wie wir gleichfalls durch ihn erkennen, dass
erst in diesen Relationen das Wesen eines Charakters und einer
Melodienlinie sich rein offenbare. Und während uns so die Musik
zwingt, mehr und innerlicher als sonst zu sehen, und den Vorgang der
Scene wie ein zartes Gespinnst vor uns auszubreiten, ist für unser
vergeistigtes, in's Innere blickendes Auge die Welt der Bühne eben so
unendlich erweitert als von innen heraus erleuchtet. Was vermöchte der
Wortdichter Analoges zu bieten, der mit einem viel unvollkommneren
Mechanismus, auf indirectem Wege, vom Wort und vom Begriff aus, jene
innerliche Erweiterung der schaubaren Bühnenwelt und ihre innere
Erleuchtung zu erreichen sich abmüht? Nimmt nun zwar auch die
musikalische Tragödie das Wort hinzu, so kann sie doch zugleich den
Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes danebenstellen und uns das
Werden des Wortes, von innen heraus, verdeutlichen.
Aber von diesem geschilderten Vorgang wäre doch eben so bestimmt
zu sagen, dass er nur ein herrlicher Schein, nämlich jene vorhin
erwähnte apollinische Täuschung sei, durch deren Wirkung wir von
dem dionysischen Andrange und Uebermaasse entlastet werden sollen.
Im Grunde ist ja das Verhältniss der Musik zum Drama gerade das
umgekehrte: die Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama
nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild derselben.
Jene Identität zwischen der Melodienlinie und der lebendigen Gestalt,
zwischen der Harmonie und den Charakterrelationen jener Gestalt ist
in einem entgegengesetzten Sinne wahr, als es uns, beim Anschauen der
musikalischen Tragödie, dünken möchte. Wir mögen die Gestalt uns auf
das Sichtbarste bewegen, beleben und von innen heraus beleuchten, sie
bleibt immer nur die Erscheinung, von der es keine Brücke giebt, die
in die wahre Realität, in's Herz der Welt führte. Aus diesem Herzen
heraus aber redet die Musik; und zahllose Erscheinungen jener Art
dürften an der gleichen Musik vorüberziehn, sie würden nie das Wesen
derselben erschöpfen, sondern immer nur ihre veräusserlichten Abbilder
sein. Mit dem populären und gänzlich falschen Gegensatz von Seele und
Körper ist freilich für das schwierige Verhältniss von Musik und Drama
nichts zu erklären und alles zu verwirren; aber die unphilosophische
Rohheit jenes Gegensatzes scheint gerade bei unseren Aesthetikern, wer
weiss aus welchen Gründen, zu einem gern bekannten Glaubensartikel
geworden zu sein, während sie über einen Gegensatz der Erscheinung
und des Dinges an sich nichts gelernt haben oder, aus ebenfalls
unbekannten Gründen, nichts lernen mochten.
Sollte es sich bei unserer Analysis ergeben haben, dass das
Apollinische in der Tragödie durch seine Täuschung völlig den Sieg
über das dionysische Urelement der Musik davongetragen und sich diese
zu ihren Absichten, nämlich zu einer höchsten Verdeutlichung des
Drama's, nutzbar gemacht habe, so wäre freilich eine sehr wichtige
Einschränkung hinzuzufügen: in dem allerwesentlichsten Punkte ist jene
apollinische Täuschung durchbrochen und vernichtet. Das Drama, das in
so innerlich erleuchteter Deutlichkeit aller Bewegungen und Gestalten,
mit Hülfe der Musik, sich vor uns ausbreitet, als ob wir das Gewebe
am Webstuhl im Auf - und Niederzucken entstehen sehen - erreicht als
Ganzes eine Wirkung, die jenseits aller apollinischen Kunstwirkungen
liegt. In der Gesammtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische
wieder das Uebergewicht; sie schliesst mit einem Klange, der niemals
von dem Reiche der apollinischen Kunst her tönen könnte. Und damit
erweist sich die apollinische Täuschung als das, was sie ist, als
die während der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der
eigentlichen dionysischen Wirkung: die doch so mächtig ist, am Schluss
das apollinische Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit
dionysischer Weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst und seine
apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich das schwierige
Verhältniss des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie
durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisiren: Dionysus
redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des
Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt
erreicht ist.
22.
Mag der aufmerksame Freund sich die Wirkung einer wahren
musikalischen Tragödie rein und unvermischt, nach seinen Erfahrungen
vergegenwärtigen. Ich denke das Phänomen dieser Wirkung nach beiden
Seiten hin so beschrieben zu haben, dass er sich seine eignen
Erfahrungen jetzt zu deuten wissen wird. Er wird sich nämlich
erinnern, wie er, im Hinblick auf den vor ihm sich bewegenden Mythus,
zu einer Art von Allwissenheit sich gesteigert fühlte, als ob jetzt
die Sehkraft seiner Augen nicht nur eine Flächenkraft sei, sondern
in's Innere zu dringen vermöge, und als ob er die Wallungen des
Willens, den Kampf der Motive, den anschwellenden Strom der
Leidenschaften, jetzt, mit Hülfe der Musik, gleichsam sinnlich
sichtbar, wie eine Fülle lebendig bewegter Linien und Figuren vor sich
sehe und damit bis in die zartesten Geheimnisse unbewusster Regungen
hinabtauchen könne. Während er so einer höchsten Steigerung seiner auf
Sichtbarkeit und Verklärung gerichteten Triebe bewusst wird, fühlt
er doch eben so bestimmt, dass diese lange Reihe apollinischer
Kunstwirkungen doch nicht jenes beglückte Verharren in willenlosem
Anschauen erzeugt, das der Plastiker und der epische Dichter, also
die eigentlich apollinischen Künstler, durch ihre Kunstwerke bei
ihm hervorbringen: das heisst die in jenem Anschauen erreichte
Rechtfertigung der Welt der individuatio, als welche die Spitze und
der Inbegriff der apollinischen Kunst ist. Er schaut die verklärte
Welt der Bühne und verneint sie doch. Er sieht den tragischen Helden
vor sich in epischer Deutlichkeit und Schönheit und erfreut sich doch
an seiner Vernichtung. Er begreift bis in's Innerste den Vorgang
der Scene und flüchtet sich gern in's Unbegreifliche. Er fühlt die
Handlungen des Helden als gerechtfertigt und ist doch noch mehr
erhoben, wenn diese Handlungen den Urheber vernichten. Er schaudert
vor den Leiden, die den Helden treffen werden und ahnt doch bei ihnen
eine höhere, viel übermächtigere Lust. Er schaut mehr und tiefer als
je und wünscht sich doch erblindet. Woher werden wir diese wunderbare
Selbstentzweiung, dies Umbrechen der apollinischen Spitze, abzuleiten
haben, wenn nicht aus dem dionysischen Zauber, der, zum Schein die
apollinischen Regungen auf's Höchste reizend, doch noch diesen
Ueberschwang der apollinischen Kraft in seinen Dienst zu zwingen
vermag. Der tragische Mythus ist nur zu verstehen als eine
Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel;
er führt die Welt der Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst
verneint und wieder in den Schooss der wahren und einzigen Realität
zurückzuflüchten sucht; wo sie dann, mit Isolden, ihren metaphysischen
Schwanengesang also anzustimmen scheint:
In des Wonnemeeres
wogendem Schwall,
in der Duft - Wellen
tönendem Schall,
in des Weltathems
wehendem All
ertrinken - versinken
unbewusst - höchste Lust!
So vergegenwärtigen wir uns, an den Erfahrungen des wahrhaft
aesthetischen Zuhörers, den tragischen Künstler selbst, wie er, gleich
einer üppigen Gottheit der individuatio, seine Gestalten schafft, in
welchem Sinne sein Werk kaum als "Nachahmung der Natur" zu begreifen
wäre - wie dann aber sein ungeheurer dionysischer Trieb diese ganze
Welt der Erscheinungen verschlingt, um hinter ihr und durch ihre
Vernichtung eine höchste künstlerische Urfreude im Schoosse des
Ur-Einen ahnen zu lassen. Freilich wissen von dieser Rückkehr zur
Urheimat, von dem Bruderbunde der beiden Kunstgottheiten in der
Tragödie und von der sowohl apollinischen als dionysischen Erregung
des Zuhörers unsere Aesthetiker nichts zu berichten, während sie nicht
müde werden, den Kampf des Helden mit dem Schicksal, den Sieg der
sittlichen Weltordnung oder eine durch die Tragödie bewirkte Entladung
von Affecten als das eigentlich Tragische zu charakterisiren: welche
Unverdrossenheit mich auf den Gedanken bringt, sie möchten überhaupt
keine aesthetisch erregbaren Menschen sein und beim Anhören der
Tragödie vielleicht nur als moralische Wesen in Betracht kommen. Noch
nie, seit Aristoteles, ist eine Erklärung der tragischen Wirkung
gegeben worden, aus der auf künstlerische Zustände, auf eine
aesthetische Thätigkeit der Zuhörer geschlossen werden dürfte. Bald
soll Mitleid und Furchtsamkeit durch die ernsten Vorgänge zu einer
erleichternden Entladung gedrängt werden, bald sollen wir uns bei dem
Sieg guter und edler Principien, bei der Aufopferung des Helden im
Sinne einer sittlichen Weltbetrachtung erhoben und begeistert fühlen;
und so gewiss ich glaube, dass für zahlreiche Menschen gerade das und
nur das die Wirkung der Tragödie ist, so deutlich ergiebt sich daraus,
dass diese alle, sammt ihren interpretirenden Aesthetikern, von
der Tragödie als einer höchsten Kunst nichts erfahren haben. Jene
pathologische Entladung, die Katharsis des Aristoteles, von der die
Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die
moralischen Phänomene zu rechnen sei, erinnert an eine merkwürdige
Ahnung Goethe's. "Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse", sagt
er, "ist es auch mir niemals gelungen, irgend eine tragische Situation
zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht.
Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein,
dass das höchste Pathetische auch nur aesthetisches Spiel bei ihnen
gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muss, um ein
solches Werk hervorzubringen?" Diese so tiefsinnige letzte Frage
dürfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Erfahrungen, bejahen,
nachdem wir gerade an der musikalischen Tragödie mit Staunen erlebt
haben, wie wirklich das höchste Pathetische doch nur ein aesthetisches
Spiel sein kann: weshalb wir glauben dürfen, dass erst jetzt das
Urphänomen des Tragischen mit einigem Erfolg zu beschreiben ist.
Wer jetzt noch nur von jenen stellvertretenden Wirkungen aus
ausseraesthetischen Sphären zu erzählen hat und über den pathologisch
- moralischen Prozess sich nicht hinausgehoben fühlt, mag nur
an seiner aesthetischen Natur verzweifeln: wogegen wir ihm die
Interpretation Shakespeare's nach der Manier des Gervinus und das
fleissige Aufspüren der "poetischen Gerechtigkeit" als unschuldigen
Ersatz anempfehlen.
So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch der aesthetische Zuhörer
wieder geboren, an dessen Stelle bisher in den Theaterräumen ein
seltsames Quidproquo, mit halb moralischen und halb gelehrten
Ansprüchen, zu sitzen pflegte, der "Kritiker". In seiner bisherigen
Sphäre war Alles künstlich und nur mit einem Scheine des Lebens
übertüncht. Der darstellende Künstler wusste in der That nicht mehr,
was er mit einem solchen, kritisch sich gebärdenden Zuhörer zu
beginnen habe und spähte daher, sammt dem ihn inspirirenden Dramatiker
oder Operncomponisten, unruhig nach den letzten Resten des Lebens
in diesem anspruchsvoll öden und zum Geniessen unfähigen Wesen. Aus
derartigen "Kritikern" bestand aber bisher das Publicum; der Student,
der Schulknabe, ja selbst das harmloseste weibliche Geschöpf war wider
sein Wissen bereits durch Erziehung und Journale zu einer gleichen
Perception eines Kunstwerks vorbereitet. Die edleren Naturen unter
den Künstlern rechneten bei einem solchen Publicum auf die Erregung
moralisch - religiöser Kräfte, und der Anruf der "sittlichen
Weltordnung" trat vikarirend ein, wo eigentlich ein gewaltiger
Kunstzauber den ächten Zuhörer entzücken sollte. Oder es wurde vom
Dramatiker eine grossartigere, mindestens aufregende Tendenz der
politischen und socialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der
Zuhörer seine kritische Erschöpfung vergessen und sich ähnlichen
Affecten überlassen konnte, wie in patriotischen oder kriegerischen
Momenten, oder vor der Rednerbühne des Parlaments oder bei der
Verurtheilung des Verbrechens und des Lasters: welche Entfremdung der
eigentlichen Kunstabsichten hier und da geradezu zu einem Cultus der
Tendenz führen musste. Doch hier trat ein, was bei allen erkünstelten
Künsten von jeher eingetreten ist, eine reissend schnelle Depravation
jener Tendenzen, so dass zum Beispiel die Tendenz, das Theater
als Veranstaltung zur moralischen Volksbildung zu verwenden, die
zu Schiller's Zeit ernsthaft genommen wurde, bereits unter die
unglaubwürdigen Antiquitäten einer überwundenen Bildung gerechnet
wird. Während der Kritiker in Theater und Concert, der Journalist in
der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft gekommen
war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungsobject der niedrigsten
Art, und die aesthetische Kritik wurde als das Bindemittel einer
eiteln, zerstreuten, selbstsüchtigen und überdies ärmlich -
unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren Sinn jene Schopenhauerische
Parabel von den Stachelschweinen zu verstehen giebt; so dass zu keiner
Zeit so viel über Kunst geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten
worden ist. Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der im
Stande ist, sich über Beethoven und Shakespeare zu unterhalten? Mag
Jeder nach seinem Gefühl diese Frage beantworten: er wird mit der
Antwort jedenfalls beweisen, was er sich unter "Bildung" vorstellt,
vorausgesetzt dass er die Frage überhaupt zu beantworten sucht und
nicht vor Ueberraschung bereits verstummt ist.
Dagegen dürfte mancher edler und zarter von der Natur Befähigte,
ob er gleich in der geschilderten Weise allmählich zum kritischen
Barbaren geworden war, von einer eben so unerwarteten als gänzlich
unverständlichen Wirkung zu erzählen haben, die etwa eine glücklich
gelungene Lohengrinaufführung auf ihn ausübte: nur dass ihm vielleicht
jede Hand fehlte, die ihn mahnend und deutend anfasste, so dass auch
jene unbegreiflich verschiedenartige und durchaus unvergleichliche
Empfindung, die ihn damals erschütterte, vereinzelt blieb und wie ein
räthselhaftes Gestirn nach kurzem Leuchten erlosch. Damals hatte er
geahnt, was der aesthetische Zuhörer ist.
23.
Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr er dem wahren
aesthetischen Zuhörer verwandt ist oder zur Gemeinschaft der
sokratisch - kritischen Menschen gehört, der mag sich nur aufrichtig
nach der Empfindung fragen, mit der er das auf der Bühne dargestellte
Wunder empfängt: ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge
psychologische Causalität gerichteten Sinn beleidigt fühlt, ob er
mit einer wohlwollenden Concession gleichsam das Wunder als ein der
Kindheit verständliches, ihm entfremdetes Phänomen zulässt oder
ob er irgend etwas Anderes dabei erleidet. Daran nämlich wird er
messen können, wie weit er überhaupt befähigt ist, den Mythus, das
zusammengezogene Weltbild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der
Erscheinung, das Wunder nicht entbehren kann. Das Wahrscheinliche
ist aber, dass fast Jeder, bei strenger Prüfung, sich so durch den
kritisch - historischen Geist unserer Bildung zersetzt fühle, um nur
etwa auf gelehrtem Wege, durch vermittelnde Abstractionen, sich die
einstmalige Existenz des Mythus glaublich zu machen. Ohne Mythus aber
geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig:
erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze
Culturbewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des
apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen
Herumschweifen gerettet. Die Bilder des Mythus müssen die unbemerkt
allgegenwärtigen dämonischen Wächter sein, unter deren Hut die junge
Seele heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und
seine Kämpfe deutet: und selbst der Staat kennt keine mächtigeren
ungeschriebnen Gesetze als das mythische Fundament, das seinen
Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen
Vorstellungen verbürgt.
Man stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen geleiteten
Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte, das abstracte
Recht, den abstracten Staat: man vergegenwärtige sich das regellose,
von keinem heimischen Mythus gezügelte Schweifen der künstlerischen
Phantasie: man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen
Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen
Culturen sich kümmerlich zu nähren verurtheilt ist - das ist die
Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus
gerichteten Sokratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig
hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend
nach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegensten Alterthümern
nach ihnen graben müsste. Worauf weist das ungeheure historische
Bedürfniss der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln
zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht
auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des
mythischen Mutterschoosses? Man frage sich, ob das fieberhafte und so
unheimliche Sichregen dieser Cultur etwas Anderes ist, als das gierige
Zugreifen und Nach-Nahrung- Haschen des Hungernden - und wer möchte
einer solchen Cultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was sie
verschlingt, nicht zu sättigen ist und bei deren Berührung sich die
kräftigste, heilsamste Nahrung in "Historie und Kritik" zu verwandeln
pflegt?
Man müsste auch an unserem deutschen Wesen schmerzlich verzweifeln,
wenn es bereits in gleicher Weise mit seiner Cultur unlösbar
verstrickt, ja eins geworden wäre, wie wir das an dem civilisirten
Frankreich zu unserem Entsetzen beobachten können; und das, was lange
Zeit der grosse Vorzug Frankreichs und die Ursache seines ungeheuren
Uebergewichts war, eben jenes Einssein von Volk und Cultur, dürfte
uns, bei diesem Anblick, nöthigen, darin das Glück zu preisen, dass
diese unsere so fragwürdige Cultur bis jetzt mit dem edeln Kerne
unseres Volkscharakters nichts gemein hat. Alle unsere Hoffnungen
strecken sich vielmehr sehnsuchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus,
dass unter diesem unruhig auf und nieder zuckenden Culturleben und
Bildungskrampfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft
verborgen liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich
gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zukünftigen Erwachen
entgegenträumt. Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation
hervorgewachsen: in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik
zuerst erklang. So tief, muthig und seelenvoll, so überschwänglich
gut und zart tönte dieser Choral Luther's, als der erste dionysische
Lockruf, der aus dichtverwachsenem Gebüsch, im Nahen des Frühlings,
hervordringt. Ihm antwortete in wetteiferndem Wiederhall jener
weihevoll übermüthige Festzug dionysischer Schwärmer, denen wir die
deutsche Musik danken - und denen wir die Wiedergeburt des deutschen
Mythus danken werden!
Ich weiss, dass ich jetzt den theilnehmend folgenden Freund auf einen
hochgelegenen Ort einsamer Betrachtung führen muss, wo er nur wenige
Gefährten haben wird, und rufe ihm ermuthigend zu, dass wir uns an
unseren leuchtenden Führern, den Griechen, festzuhalten haben. Von
ihnen haben wir bis jetzt, zur Reinigung unserer aesthetischen
Erkenntniss, jene beiden Götterbilder entlehnt, von denen jedes ein
gesondertes Kunstreich für sich beherrscht und über deren gegenseitige
Berührung und Steigerung wir durch die griechische Tragödie zu einer
Ahnung kamen. Durch ein merkwürdiges Auseinanderreissen beider
künstlerischen Urtriebe musste uns der Untergang der griechischen
Tragödie herbeigeführt erscheinen: mit welchem Vorgange eine
Degeneration und Umwandlung des griechischen Volkscharakters im
Einklang war, uns zu ernstem Nachdenken auffordernd, wie nothwendig
und eng die Kunst und das Volk, Mythus und Sitte, Tragödie und Staat,
in ihren Fundamenten verwachsen sind. Jener Untergang der Tragödie
war zugleich der Untergang des Mythus. Bis dahin waren die Griechen
unwillkürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen
anzuknüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen: wodurch
auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in
gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. In diesen Strom des
Zeitlosen aber tauchte sich eben so der Staat wie die Kunst, um in ihm
vor der Last und der Gier des Augenblicks Ruhe zu finden. Und gerade
nur so viel ist ein Volk - wie übrigens auch ein Mensch - werth, als
es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag:
denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste
innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit und von der
wahren, d.h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegentheil
davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen
und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern: womit
gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch mit der
unbewussten Metaphysik seines früheren Daseins, in allen ethischen
Consequenzen, verbunden ist. Die griechische Kunst und vornehmlich die
griechische Tragödie hielt vor Allem die Vernichtung des Mythus auf:
man musste sie mit vernichten, um, losgelöst von dem heimischen Boden,
ungezügelt in der Wildniss des Gedankens, der Sitte und der That leben
zu können. Auch jetzt noch versucht jener metaphysische Trieb, sich
eine, wenngleich abgeschwächte Form der Verklärung zu schaffen, in
dem zum Leben drängenden Sokratismus der Wissenschaft: aber auf den
niederen Stufen führte derselbe Trieb nur zu einem fieberhaften
Suchen, das sich allmählich in ein Pandämonium überallher
zusammengehäufter Mythen und Superstitionen verlor: in dessen Mitte
der Hellene dennoch ungestillten Herzens sass, bis er es verstand, mit
griechischer Heiterkeit und griechischem Leichtsinn, als Graeculus,
jenes Fieber zu maskiren oder in irgend einem orientalisch dumpfen
Aberglauben sich völlig zu betäuben.
Diesem Zustande haben wir uns, seit der Wiedererweckung des
alexandrinisch - römischen Alterthums im fünfzehnten Jahrhundert,
nach einem langen schwer zu beschreibenden Zwischenacte, in der
auffälligsten Weise angenähert. Auf den Höhen dieselbe überreiche
Wissenslust, dasselbe ungesättigte Finderglück, dieselbe ungeheure
Verweltlichung, daneben ein heimatloses Herumschweifen, ein gieriges
Sichdrängen an fremde Tische, eine leichtsinnige Vergötterung der
Gegenwart oder stumpf betäubte Abkehr, Alles sub specie saeculi, der
"Jetztzeit": welche gleichen Symptome auf einen gleichen Mangel im
Herzen dieser Cultur zu rathen geben, auf die Vernichtung des Mythus.
Es scheint kaum möglich zu sein, mit dauerndem Erfolge einen fremden
Mythus überzupflanzen, ohne den Baum durch dieses Ueberpflanzen
heillos zu beschädigen: welcher vielleicht einmal stark und gesund
genug ist, jenes fremde Element mit furchtbarem Kampfe wieder
auszuscheiden, für gewöhnlich aber siech und verkümmert oder in
krankhaftem Wuchern sich verzehren muss. Wir halten so viel von dem
reinen und kräftigen Kerne des deutschen Wesens, dass wir gerade von
ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder Elemente zu
erwarten wagen und es für möglich erachten, dass der deutsche Geist
sich auf sich selbst zurückbesinnt. Vielleicht wird Mancher meinen,
jener Geist müsse seinen Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen
beginnen: wozu er eine äusserliche Vorbereitung und Ermuthigung in
der siegreichen Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten Krieges
erkennen dürfte, die innerliche Nöthigung aber in dem Wetteifer suchen
muss, der erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, Luther's ebensowohl
als unserer grossen Künstler und Dichter, stets werth zu sein. Aber
nie möge er glauben, ähnliche Kämpfe ohne seine Hausgötter, ohne seine
mythische Heimat, ohne ein "Wiederbringen" aller deutschen Dinge,
kämpfen zu können! Und wenn der Deutsche zagend sich nach einem
Führer umblicken sollte, der ihn wieder in die längst verlorne Heimat
zurückbringe, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt - so mag er nur
dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der über
ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will.
24.
Wir hatten unter den eigenthümlichen Kunstwirkungen der musikalischen
Tragödie eine apollinische Täuschung hervorzuheben, durch die wir
vor dem unmittelbaren Einssein mit der dionysischen Musik gerettet
werden sollen, während unsre musikalische Erregung sich auf einem
apollinischen Gebiete und an einer dazwischengeschobenen sichtbaren
Mittelwelt entladen kann. Dabei glaubten wir beobachtet zu haben, wie
eben durch diese Entladung jene Mittelwelt des scenischen Vorgangs,
überhaupt das Drama, in einem Grade von innen heraus sichtbar und
verständlich wurde, der in aller sonstigen apollinischen Kunst
unerreichbar ist: so dass wir hier, wo diese gleichsam durch den Geist
der Musik beschwingt und emporgetragen war, die höchste Steigerung
ihrer Kräfte und somit in jenem Bruderbunde des Apollo und des
Dionysus die Spitze ebensowohl der apollinischen als der dionysischen
Kunstabsichten anerkennen mussten.
Freilich erreichte das apollinische Lichtbild gerade bei der inneren
Beleuchtung durch die Musik nicht die eigenthümliche Wirkung der
schwächeren Grade apollinischer Kunst; was das Epos oder der beseelte
Stein vermögen, das anschauende Auge zu jenem ruhigen Entzücken an der
Welt der individuatio zu zwingen, das wollte sich hier, trotz einer
höheren Beseeltheit und Deutlichkeit, nicht erreichen lassen. Wir
schauten das Drama an und drangen mit bohrendem Blick in seine
innere bewegte Welt der Motive - und doch war uns, als ob nur ein
Gleichnissbild an uns vorüberzöge, dessen tiefsten Sinn wir fast
zu errathen glaubten und das wir, wie einen Vorhang, fortzuziehen
wünschten, um hinter ihm das Urbild zu erblicken. Die hellste
Deutlichkeit des Bildes genügte uns nicht: denn dieses schien eben
sowohl Etwas zu offenbaren als zu verhüllen; und während es mit seiner
gleichnissartigen Offenbarung zum Zerreissen des Schleiers, zur
Enthüllung des geheimnissvollen Hintergrundes aufzufordern schien,
hielt wiederum gerade jene durchleuchtete Allsichtbarkeit das Auge
gebannt und wehrte ihm, tiefer zu dringen.
Wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu müssen und zugleich
über das Schauen hinaus sich zu sehnen, wird sich schwerlich
vorstellen, wie bestimmt und klar diese beiden Prozesse bei der
Betrachtung des tragischen Mythus nebeneinander bestehen und
nebeneinander empfunden werden: während die wahrhaft aesthetischen
Zuschauer mir bestätigen werden, dass unter den eigenthümlichen
Wirkungen der Tragödie jenes Nebeneinander die merkwürdigste sei. Man
übertrage sich nun dieses Phänomen des aesthetischen Zuschauers in
einen analogen Prozess im tragischen Künstler, und man wird die
Genesis des tragischen Mythus verstanden haben. Er theilt mit der
apollinischen Kunstsphäre die volle Lust am Schein und am Schauen und
zugleich verneint er diese Lust und hat eine noch höhere Befriedigung
an der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt. Der Inhalt des
tragischen Mythus ist zunächst ein episches Ereigniss mit der
Verherrlichung des kämpfenden Helden: woher stammt aber jener an
sich räthselhafte Zug, dass das Leiden im Schicksale des Helden,
die schmerzlichsten Ueberwindungen, die qualvollsten Gegensätze der
Motive, kurz die Exemplification jener Weisheit des Silen, oder,
aesehetisch ausgedrückt, das Hässliche und Disharmonische, in so
zahllosen Formen, mit solcher Vorliebe immer von Neuem dargestellt
wird und gerade in dem üppigsten und jugendlichsten Alter eines
Volkes, wenn nicht gerade an diesem Allen eine höhere Lust percipirt
wird?
Denn dass es im Leben wirklich so tragisch zugeht, würde am wenigsten
die Entstehung einer Kunstform erklären; wenn anders die Kunst
nicht nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein
metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zu deren
Ueberwindung neben sie gestellt. Der tragische Mythus, sofern er
überhaupt zur Kunst gehört, nimmt auch vollen Antheil an dieser
metaphysischen Verklärungsabsicht der Kunst überhaupt: was verklärt
er aber, wenn er die Erscheinungswelt unter dem Bilde des leidenden
Helden vorführt? Die "Realität". dieser Erscheinungswelt am wenigsten,
denn er sagt uns gerade: "Seht hin! Seht genau hin! Dies ist euer
Leben! Dies ist der Stundenzeiger an eurer Daseinsuhr!"
Und dieses Leben zeigte der Mythus, um es vor uns damit zu verklären?
Wenn aber nicht, worin liegt dann die aesthetische Lust, mit der wir
auch jene Bilder an uns vorüberziehen lassen? Ich frage nach der
aesthetischen Lust und weiss recht wohl, dass viele dieser Bilder
ausserdem mitunter noch eine moralische Ergetzung, etwa unter der Form
des Mitleides oder eines sittlichen Triumphes, erzeugen können. Wer
die Wirkung des Tragischen aber allein aus diesen moralischen Quellen
ableiten wollte, wie es freilich in der Aesthetik nur allzu lange
üblich war, der mag nur nicht glauben, etwas für die Kunst damit
gethan zu haben: die vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangen
muss. Für die Erklärung des tragischen Mythus ist es gerade die erste
Forderung, die ihm eigenthümliche Lust in der rein aesthetischen
Sphäre zu suchen, ohne in das Gebiet des Mitleids, der Furcht, des
Sittlich - Erhabenen überzugreifen. Wie kann das Hässliche und das
Disharmonische, der Inhalt des tragischen Mythus, eine aesthetische
Lust erregen?
Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen Anlauf in eine
Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen, indem ich den früheren Satz
wiederhole, dass nur als ein aesthetisches Phänomen das Dasein und
die Welt gerechtfertigt erscheint: in welchem Sinne uns gerade der
tragische Mythus zu überzeugen hat, dass selbst das Hässliche und
Disharmonische ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der
ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt. Dieses schwer zu
fassende Urphänomen der dionysischen Kunst wird aber auf directem
Wege einzig verständlich und unmittelbar erfasst in der wunderbaren
Bedeutung der musikalischen Dissonanz: wie überhaupt die Musik, neben
die Welt hingestellt, allein einen Begriff davon geben kann, was unter
der Rechtfertigung der Welt als eines aesthetischen Phänomens zu
verstehen ist. Die Lust, die der tragische Mythus erzeugt, hat eine
gleiche Heimat, wie die lustvolle Empfindung der Dissonanz in der
Musik. Das Dionysische, mit seiner selbst am Schmerz percipirten
Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschooss der Musik und des tragischen
Mythus.
Sollte sich nicht inzwischen dadurch, dass wir die Musikrelation der
Dissonanz zu Hülfe nahmen, jenes schwierige Problem der tragischen
Wirkung wesentlich erleichtert haben? Verstehen wir doch jetzt, was
es heissen will, in der Tragödie zugleich schauen zu wollen und sich
über das Schauen hinaus zu sehnen: welchen Zustand wir in Betreff der
künstlerisch verwendeten Dissonanz eben so zu charakterisiren hätten,
dass wir hören wollen und über das Hören uns zugleich hinaussehnen.
Jenes Streben in's Unendliche, der Flügelschlag der Sehnsucht, bei
der höchsten Lust an der deutlich percipirten Wirklichkeit, erinnern
daran, dass wir in beiden Zuständen ein dionysisches Phänomen zu
erkennen haben, das uns immer von Neuem wieder das spielende Aufhauen
und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust
offenbart, in einer ähnlichen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen
die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend
Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft.
Um also die dionysische Befähigung eines Volkes richtig abzuschätzen,
dürften wir nicht nur an die Musik des Volkes, sondern eben so
nothwendig an den tragischen Mythus dieses Volkes als den zweiten
Zeugen jener Befähigung zu denken haben. Es ist nun, bei dieser
engsten Verwandtschaft zwischen Musik und Mythus, in gleicher Weise
zu vermuthen, dass mit einer Entartung und Depravation des Einen eine
Verkümmerung der Anderen verbunden sein wird: wenn anders in der
Schwächung des Mythus überhaupt eine Abschwächung des dionysischen
Vermögens zum Ausdruck kommt. Ueber Beides dürfte uns aber ein Blick
auf die Entwicklung des deutschen Wesens nicht in Zweifel lassen: in
der Oper wie in dem abstracten Charakter unseres mythenlosen Daseins,
in einer zur Ergetzlichkeit herabgesunkenen Kunst, wie in einem vom
Begriff geleiteten Leben, hatte sich uns jene gleich unkünstlerische,
als am Leben zehrende Natur des sokratischen Optimismus enthüllt.
Zu unserem Troste aber gab es Anzeichen dafür, dass trotzdem der
deutsche Geist in herrlicher Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft
unzerstört, gleich einem zum Schlummer niedergesunknen Ritter, in
einem unzugänglichen Abgrunde ruhe und träume: aus welchem Abgrunde
zu uns das dionysische Lied emporsteigt, um uns zu verstehen zu
geben, dass dieser deutsche Ritter auch jetzt noch seinen uralten
dionysischen Mythus in selig - ernsten Visionen träumt. Glaube
Niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig
verloren habe, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die
von jener Heimat erzählen. Eines Tages wird er sich wach finden, in
aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wird er Drachen
tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünnhilde erwecken - und
Wotan's Speer selbst wird sei
<< Home